Bowling ist wie das Leben

Nach außen cool, aber innen brennt es lichterloh: Bowlingspieler brauchen die Anerkennung der Kollegen, wer Gefühle zeigt, macht sich angreifbar. Jeden Sonntag spielen die „Quastels“, die „Hammers“, die „Pinchirurgen“ oder die „Warriors“ im „City Bowling“-Center am Volkspark Hasenheide

von JAN BRANDT

„Und, wie läuft’s?“, fragt der Cowboy Jeffrey Lebowski, und Jeffrey Lebowski, der sich selbst „The Dude“ nennt, antwortet: „Ach, du kennst das, hin und wieder mal ’nen Strike, und dann mal wieder nichts.“ Bowling, könnte man meinen, ist wie das Leben, eine unendliche Geschichte: Kaum hat man alle zehn Pins umgeworfen, werden sie von einer Maschine hinter den Kulissen wieder aufgestellt.

Jennifer Lufter hat den Film „The Big Lebowski“ nicht gesehen. Sie geht selten ins Kino oder in die Disko, sondern verbringt jede freie Minute auf der Bowlingbahn. Mit einer kreisenden Bewegung wischt sie über die glatte Oberfläche ihrer Kugel. Um sie herum stehen die Männer, deren Bäuche über die engen Trainingshosen quellen, es riecht nach Schweiß und abgestandenem Zigarettenrauch, an den Plastikpulten, vor den vierundzwanzig Bahnen, haben sich die Mannschaften versammelt, ein Kellner hetzt hin und her und teilt das Bier aus. Gleich geht es los, wie jeden Sonntag, Trioliga, Freizeitliga. „Just for fun“, wie Jennifer sagt.

Das „City Bowling“-Center liegt neben dem Einkaufszentrum „Neue Welt“ in Neukölln, unmittelbar am Volkspark Hasenheide. Ende April wird die Halle, die 1966 erbaut wurde, abgerissen und durch eine moderne Anlage ersetzt. Fast alles in diesem flachen, länglichen Gebäude ist fünfunddreißig Jahre alt, die Holzbahnen, die orangefarbenen Tische und Stühle, das Pult und die Kugelkästen. Nur die meisten Bowlingspieler sind noch älter. Einige haben schon damit begonnen, sich „einzuwerfen“: Mit einem dumpfen Knall fallen die Kugeln auf die Holzbahnen, rutschen ein paar Meter über das geölte Parkett, bis sie ins Rollen kommen und die in einem Dreieck aufgestellten Pins auseinander fegen.

Thomas „Tommy“ Witt und Stefan Richter, Jennifers Teamkollegen, ziehen die Bowlingschuhe an und packen ihre Kugeln aus. Zusammen sind sie die „Quastels“, zusammen sind sie unschlagbar, heute werden sie es den „Hammers“ zeigen, später den „Pinchirurgen“, den „Warriors“, den „Dragons“ und irgendwann auch den „Gipfelstürmern“. „Jenny“, sagt Tommy, „ist eine Aushilfe gegen die guten Mannschaften.“ Jenny ist der Joker, auf sie kann man sich verlassen. Im letzten Jahr hat die 18-Jährige die Deutschen Jugendmeisterschaften gewonnen. Sie ist derzeit Berlins erfolgreichste Junioren-Bowlingspielerin und hat in ihrer Altersklasse alle Rekorde gebrochen.

Ihr Trainer Heinz Ratajczak sagt, sie sei eine „hochsensible Person“, feinfühlig und intelligent, stark, aber verletzlich, konzentriert und ehrgeizig, eine Frau, die weiß, was sie will. Ihre einzige Schwäche bestehe darin, dass sie ihre Gefühle nicht so gut verstecken könne wie andere. „Viele wirken nach außen hin cool und sicher, aber innen brennt es lichterloh“, sagt Ratajczak. Wer seine Gefühle zeigt, macht sich angreifbar, besonders beim Bowling, wo man allein und doch von der Anerkennung der Kollegen abhängig ist.

Niemand weiß, wie lange Jennifer noch dabei sein wird. Gerade hat sie mit der Damenmannschaft der Neuköllner Sportfreunde (NSF) wieder die Meisterschaft gewonnen, wie im letzten Jahr und im Jahr davor. In die Zweite Bundesliga sind sie trotzdem nicht vorgerückt, weil sie die Aufstiegsspiele verloren haben. Heinz Ratajczak hat die Erfahrung gemacht, dass die jungen Spieler irgendwann ausgebrannt sind und sich die Frage stellen: „Was machen wir hier? Warum strengen wir uns an?“

An einem Tag wie diesem, einem ganz gewöhnlichen Sonntag, an dem nichts auf dem Spiel steht, will Jennifer nicht weniger als 160 Punkte erzielen, das persönliche Mindestmaß, alles andere ist nicht der Rede wert. Jenny nimmt fünf Schritte Anlauf, ein kurzes Gleiten, die Kugel, ein Augapfel mit aufgemalten Adern und blauer Iris, fliegt ihr aus der Hand, schiebt sich auf die Pins zu, fängt spät an zu rollen und erwischt die rechte Gasse, die Lücke zwischen dem ersten und zweiten Pin, die sicherste Methode, einen Strike zu erzielen.

Nach jedem Wurf berühren sich die Spieler mit den Händen, ganz zärtlich, es ist mehr ein Streicheln als ein Abschlagen. Nur bei einem Strike klatschen die Handinnenflächen mit voller Wucht aufeinander, um das Glück möglichst schnell und laut weiterzugeben. Wenn nach dem zweiten Versuch noch Pins stehen, hält Jenny nur die Faust hin, ohne die Mitspieler anzusehen.

Tommys Freundin sitzt am Pult und notiert die Ergebnisse auf einer Folie. Eine Art Overheadprojektor wirft die Tabelle auf eine Leiste über der Bahn. „Hast du geräumt“, fragt sie, und Tommy sagt: „Natürlich.“ Und: „Strike“, was bei ihm mehr wie „Streik“ klingt. Er zieht seinen Bauch ein, die Trainingshose hoch und kommt leicht tänzelnd auf Stefan zu. Stefan, der Zweimetermann, ist seit zehn Stunden auf der Bahn, hat schon sechs Spiele mit seinem Verein, den „Ten Pins“, hinter sich und wirkt kein bisschen müde. „Da habe ich wohl aus Versehen ein Ass geworfen“, sagt er nach seinem Wurf und reicht Tommy und Jenny die Hand.

Die meisten Bowlingspieler spielen in allen drei Ligen. Mit dem Verein nehmen sie an nationalen und internationalen Wettkämpfen teil. In den Betriebssportmannschaften treten Mitarbeiter von Firmen wie Gillette oder IBM, der Stadtreinigung und dem Berliner Senat gegeneinander an. Und in der Freizeitliga finden sich die Unverbesserlichen zusammen, die, die vom Bowling nicht genug bekommen können, Männer in ausgewaschenen Trikots und Frauen, die ein Stirnband tragen, damit ihnen beim Werfen die langen Haare nicht ins Gesicht fallen.

Über Lautsprecher wird bekannt gegeben, dass die „Quastels“ im ersten Durchgang das höchste Ergebnis erzielt haben und sich nun drei Freigetränke aussuchen dürfen. Sie bestellen Fanta und Spezi, keiner von ihnen trinkt Alkohol, jedenfalls nicht, solange das Spiel läuft, sie wollen gewinnen, und wer zu viel getrunken hat, kommt ins Schlingern, verliert die Konzentration. Beim Bowling zählt jeder Millimeter, Präzision, die rechte oder linke Gasse. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, alle zehn auf einmal umzuhauen. Mit Kraft hat das nichts zu tun, eigentlich ganz einfach.

Im zweiten Durchgang gehen die „Hammers“ für kurze Zeit in Führung, Tommy und Charly liefern sich einen unerbittlichen Zweikampf. Charly von den „Hammers“ ist ein drahtiger Schlacks mit Oberlippenbart, der nach jedem Strike sagt: „Ich hab kein Mitleid.“ Aber Tommy lässt sich nicht einschüchtern und legt nach, was bei Charly nur ein Schulterzucken auslöst, er habe von Tommy, dem „Streber“, nichts anderes erwartet.

Diesen verbalen Schlagabtausch hat Jenny nicht nötig, zumindest in Berlin muss sie keine Konkurrenz fürchten. „Jetzt geht der Start auf die 300 los“, sagt sie, 300, das ist die höchste Punktzahl, die man beim Bowling erreichen kann, ein so genanntes „perfektes Spiel“, zwölf Strikes in Folge. Jenny hat bisher nur 280 geschafft, und als nach dem ersten Wurf drei Pins stehen bleiben, macht sie die erste Einschränkung: „Dann eben 290.“

Ihr Gegner ist sie selbst, ihr eigener hoher Anspruch. Beim nächsten Wurf knickt sie mit dem Standbein um, sie rudert mit den Armen, sucht nach einem Halt, draußen auf der Bahn, dort, wo es nichts gibt, an dem man sich festhalten könnte, und verliert das Gleichgewicht. Eine Weile bleibt sie regungslos sitzen, vornübergebeugt, abwesend, jeden Versuch, sie zu trösten, wehrt sie ab. Tommy spricht ihr Mut zu und gibt ihr ein Tempotaschentuch, damit sie sich die Nase putzen und die Tränen aus den Augen wischen kann.

Tommys Freundin hat sie schon aufgegeben, das Gesamtergebnis ausgerechnet und neben ihren Namen geschrieben, 56 steht da, und als Jenny aufblickt und ihre Leistung sieht, geht sie zum Kugelkasten hinüber und nimmt ihre schwarze Kugel, die besser in der Hand liegt als der Augapfel. In aller Ruhe baut sie sich vor der Bahn auf, stellt die Füße zusammen und orientiert sich an einem auf dem Holz aufgemalten Punkt. Sie nimmt wieder fünf Schritte Anlauf, holt aus, der Arm pendelt nach vorne, das rechte Bein schiebt sich neben das linke, ihre Finger gleiten aus der Kugel, der schwere Kunststoffball fällt auf das Holz, beschreibt einen Bogen, rutscht beinahe ab, um im letzten Drittel der Bahn wieder auf die Mitte einzuschwenken, erreicht die rechte Gasse und fegt die Pins weg. „Streik“, ruft Tommy. Jenny dreht sich um, noch ehe der letzte Pin gefallen ist. Sie lacht nicht, ballt nicht wie die anderen zum Zeichen des Sieges die Hand zur Faust, sie schlägt ab, weil es sich so gehört, ein lustloses Streifen mit den Fingerkuppen. Ein Strike war das Mindeste und ist doch zu wenig, sie weiß, dass sie die in sie gesetzte Hoffnung nicht erfüllen konnte. Beim Sprechen dreht sie jetzt oft die Augen weg, als wäre ihr jedes Wort zu viel, unangenehm, hier zu sitzen und nur durchschnittlich zu sein.

Am liebsten würde sie jetzt nach Hause fahren, aber solange das Spiel läuft, kann sie nicht weg, kann ihre Mannschaft nicht im Stich lassen. Also sitzt sie auf der Stuhllehne und raucht, sie weiß nicht, was sie sonst machen soll, sie spielt seit sieben Jahren, Bowling ist ihr Leben, darüber hinaus gibt es nicht viel. Vor ein paar Monaten hat sie eine Ausbildung angefangen, im Einzelhandel, Verkäuferin bei Edeka, 40 Stunden in der Woche, seitdem ist alles anders, seitdem ist Zeit wichtiger geworden, Zeit für sich und Zeit fürs Bowling.

Kaum ist das Spiel zu Ende, packt Jenny ihre Kugeln ein und tauscht die Bowlingschuhe gegen Sneakers, was keinen großen Unterschied macht, außer, dass die Sohle nun breiter und geriffelter ist. Die „Quastels“ haben mit fünfzehn zu fünf gegen die „Hammers“ gewonnen, aber niemand scheint darüber richtig glücklich zu sein. „Jetzt rennen alle nach Hause“, sagt Tommy, „und morgen, nach der Arbeit, geht es wieder von vorne los.“