Durchs wilde Merkwürdistan

Wie mit dem japanischen Kaiserhaus über Fisch reden? Das und noch viel mehr steht in dem Abenteuer- und Reflexionsbuch „Meine Gesellschaft“. Tilman Spengler, der Autor, läuft darin vor keinem Kalauer davon und erweist sich zugleich als Virtuose der Ironie, des Rhythmus und der Tonlagen

von ELKE SCHMITTER

Elitenbildung: So eine Sache. Dass wir ohne dieselbe nicht auskommen, hat sich als Vermutung inzwischen durchgesetzt. Elitenbildung findet allenthalben statt und beglückt schließlich auch jene, die sich durch den Kauf einer entsprechenden Zeitschrift fortan zur Info-Elite zählen dürfen. Die heftige Zunahme an Prominenz allein durchs Fernsehen sorgt für lebendigen Nachschub und permanente Aktualisierung der Frage, wie eine Gesellschaft, die von ihren traditionellen Sekundärtugenden Abschied genommen hat, die ihr notwendigen Unterscheidungen erfindet und reguliert. Ein Thema, das Tilman Spengler beschäftigt.

Auch er stellt sich immer mal wieder die Frage, ob und zu welcher Elite er sich zählen dürfe. Er stellt sie, soweit wir das beurteilen können, ähnlich zweifelnd und auf Frustration gefasst wie der durchschnittlich ehrgeizige Leser, der die Gesellschaft zur Selbstvergewisserung, als Spiegel, als Echo und als Chor braucht wie gebraucht – aber es ist ihm doch entschieden eine Anmut eigen, die eine besondere Elite erst begründet. Denn zierlicher als Tilman Spengler, mit freundlicherer Ironie und in – bei aller gebotenen Klarheit! – schöneren Worten kann man sich und die Welt danach nicht befragen.

Tilman Spengler ist Sinologe. „Es ist ein gefördertes Studium, ich erinnere mich nicht genau, entweder für Höchst- oder nur für Hochbegabte. Mit einer Handvoll von keineswegs minder, doch anders Begabten trifft man sich in regelmäßigen Abständen in der Wohnung eines Mentors, um dort die Fragen der Zeit zu lösen. Wir erledigen das entsprechend unserer fachlichen Ausrichtung . . . , als Zweitsemester im Fach Sinologie löse ich die Fragen der Zeit nach ostasiatischen Kulturvorgaben. Allein gehört mir diese Perspektive allerdings nur für wenige Monate, dann stößt eine aus Heidelberg nach München umgesiedelte Koreanistin zu unserem Kreis. Sie beschneidet das Feld meiner Kompetenzansprüche. Die Frage, ob es sich bei uns um eine Gruppe von ätzenden Strebern handelt, kann eindeutig mit Ja beantwortet werden.“

Dieser Schwenk von der gefährlichen Beschaulichkeit zum jähen Absturz in die Wahrheit zeichnet viele Geschichten Tilman Spenglers aus. In seinem Buch, für das eine Genrebezeichnung schwer fällt und das der Autor, Feuilletonist, Romanautor und Mitherausgeber der gleichnamigen Zeitschrift das „Kursbuch eines Unfertigen“ nennt, treffen sich Anekdoten mit Geschichten, Kuriosa mit Reflexionen; fast alles selbst erlebt und, wo nicht durch Versicherung, dann doch durch die höhere Einsicht des Lesers beglaubigt, dass so etwas immerhin möglich ist. Es ist allerdings nicht das Interessante, das Tilman Spengler interessiert. Er war als Kanzlerbegleiter am Hof des Kaisers von Japan und als Kriegsberichterstatter in Vietnam, er hat als Reporter die Flüchtlingslager im Kosovo besucht und als Reisender in China beinahe einen Dolch in sein Gewand bekommen. Aber von all diesen Situationen bleibt ihm nicht immer das, was eine bündige Geschichte braucht, und wenn es ihm geblieben ist, dann enthält er es uns weise vor: denn das Mürbe, Ungekonnte, das Unfertige und das halb Gescheiterte ist dann doch komischer und aufschlussreicher als das komplette Abenteuer.

So ist es schön und dem Kaiser gefällig, sich daran zu erinnern, wie es damals in Tokio war.

„ ,Fisch‘, hat mir der Mann von der deutschen Botschaft am frühen Morgen über das Telefon mitgeteilt. ,Der Palast hat uns wissen lassen, dass der Hof heute geneigt ist, sich beim Mittagessen über Fisch zu verbreiten und diesbezügliche Anregungen durch die Gäste aufzunehmen.‘ “ Die Sache geht ihren Gang. „Seine Kaiserliche Hoheit will wissen, ob wir uns gerne am Meer entspannen. Die dem jüngeren Bruder des Kronprinzen zur Rechten an die Seite gesetzte Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages verweist auf die geographische Lage ihres Wahlkreises. Bielefeld – unterstellt einmal, die Vizepräsidentin will sich wirklich dem Generalthema stellen – qualifiziert nicht einmal für ein fachkundiges Gespräch über Süßwasserfische. Keiner von uns, weder der jüngere Bruder des Kronprinzen noch ich, das stellt sich bald heraus, kann so klug und anregend nicht über Fische reden wie sie. Metaphorisch oder in der musikalischen Kompositionslehre würde man von einem Krebssatz sprechen. Da mir diese Souveränität in der Konversation leider nicht gegeben ist, erfinde ich aus schierer Versagensangst die ausgefallensten schamanistischen Praktiken in Ober- und in Niederbayern, die allesamt von Fischkulten inspiriert wurden. Ich rede noch über Fischleitern, Forelleneier und erwähne in blinder Panik auch noch das Thema Eileiter.“

Man sieht, der Autor läuft vor keinem Kalauer davon. Das Entspannte seiner Prosa liegt nicht nur in der Ironie, sondern auch in dem eleganten Wechsel von fast vergessenen Ausschweifungen des Hochdeutschen (wie „sämischgares Leder“) über die offene Satire bis hin zum schlenkernden Witz des Heimkehrers vom Grillabend, leicht angetrunken zwischen Patrick Süßkind und Konrad Lorenz, mit Blick auf den Starnberger See . . .

Natürlich wird es auch ernst, so zwischendurch. Ernst und nicht selten poetisch, denn Spengler ist nicht nur ein Rhythmus-Virtuose, sondern auch einer der Tonlagen. Sein Buch ist, soweit ich’s überblicke, einigermaßen beispiellos in der deutschen Literatur – nicht nur in seiner souveränen Missachtung eines buchstäblich nachweislichen Themas außer dem der Merkwürdigkeit, die sich nicht selten unauffällig kleidet. Einer wie er wäre in Frankreich oder England gerade für das berühmt, was ihm hier eher Misstrauen einträgt: geringe Zuverlässigkeit, nicht, was seine Talente betrifft – sondern was er jeweils daraus macht. Was macht er denn nun wirklich? Spielt er bei den Großen mit oder ist er nur Zuschauer? Will er Elite sein oder sie bloß beschreiben? Ist er ein Autor, Soziologe, Dandy, ein Humorist, ein Zeitzeuge, eine Begabung oder ein Intellektueller?

Ein wunderbarer Essayist ist er in jedem Fall.

Tilman Spengler: „Meine Gesellschaft. Kursbuch eines Unfertigen“. Berlin Verlag, Berlin 2001, 183 Seiten, 32 DM