Der sehr lange Lauf

Er will wissen, ob er einen Marathon schafft. Jetzt weiß er es  ■ 

Es ist ja nur ein Experiment. Wenn es nicht geht, dann hört er eben einfach auf. Wenn das Knie zu sehr schmerzt oder der Zahn, der sich seit zwei Tagen wichtig macht. „Ich will nur wissen, ob ich so weit laufen kann“, sagt Rainer Barthel, der schon jahrelang läuft. Aber nie so weit. Nie 42,195 Kilometer.

Am Tage vorher die Zweifel: „Ich habe mich nicht genügend vorbereitet.“ Auch die 80 Kilometer, die der Kollege wöchentlich gelaufen ist, hat er nur einmal erreicht. Keine neuen Schuhe gekauft, keines dieser eng anliegenden Glitzerhemden. Was soll er anziehen? Kurze Hose oder lange? T-oder Sweatshirt? Wird es regnen? Er packt eine Telefonkarte ein, damit er von unterwegs Freunden seinen Ausstieg mitteilen kann.

Und dann kommt es doch ganz anders: Die Sonne scheint einen ganzen Marathon lang, außer denen mit Glitzershirts gibt es auch die Milka lila Kuh im Plüschkos-tüm, die Panzerknacker und viele Menschen in schnöder Baumwolle. Bei Kilometer 17,5: Lange Hose ist zu warm, anhalten, ausziehen, trinken. „Es ist toll.“

Nach knapp 30 Kilometern: „Stark, in Barmbek saß einer mit der Gitarre auf dem Garagendach, überall spielen Bands und alte Damen verteilen Apfelviertel. Ich kann noch.“ Nach 33 Kilometern: „Geht noch, aber ich darf nicht anhalten.“ Vielen Gesichtern sieht man den Kampf an. Andere plaudern noch über Bestzeiten oder feuern die Anfeuerer an: „Mal nicht so lahm hier“, ruft eine Läuferin.

Klosterstern, dann runter zur Alster, Dammtor, Gorch-Fock-Wall – und dann das Ziel. Vier Stunden und eine viertel. „Die letzten Meter habe ich noch gezögert, um den Moment zu genießen“, sagt Rainer Barthel. Eigentlich sieht er noch genauso aus wie am Start, bis auf den Schweiß auf der Stirn. „Es war großartig“, sagt er und schwärmt von den „Gänsehaut-Stellen“: Am Hafen, „diese Kulisse und dann die ganzen Menschen, die auf uns warteten“. Die Tarpenbekstraße und der Klosterstern, wo die Läufer durch eine enge Gasse mussten, getragen vom „ihr seid super, bald habt ihr es geschafft“ der vielen, vielen Zuschauer. Da war der Mann in Altona, der aus dem Fenster Trompete spielte und die Feuerwehrleute, die auf dem Dach ihres Autos die Sirene heulen ließen.

Und da waren die Freunde, die an verschiedenen Stellen Getränke und vor allem Kraft gaben. „Ohne, wäre es nie so gut gewesen.“ Und wie war der Rausch der Glückshormone? „Nicht so richtig.“ Genauso wenig wie der Moment zwischen 30 und 40 Kilometern, an dem angeblich nichts mehr gehen soll. „Auf den habe ich die ganze Zeit gewartet.“ Klar waren die Beine schwer, und ab Kilometer 39 war es richtig hart. „Und wenn ich die Schuhe ausziehen würde, käme ich wohl nicht mehr rein.“ Und wenn er sich setzen würde, käme er wohl nicht mehr hoch, sagt einer, der nun weiß, dass er weit laufen kann, sehr weit.

Sandra Wilsdorf