Wurst, Waden und Wirklichkeit

Eine haarsträubend bedrohliche Eisenbahnreise von Frankfurt am Main nach Mainz

„Der Mensch gehört zu den Haartieren ...“ (Ror Wolf, Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt)

Auf der heutigen Eisenbahn herrschen die allerkatastrophalsten Zustände. Es gehört z. B., um nur dies zu erwähnen, zu den haarigsten Unterfangen, mit der Eisenbahn nach Mainz zu gelangen und dort anzukommen, ohne erheblichen Störungen von verschiedensten Weisen und stattlicher Abnormität ausgesetzt zu werden.

Dass Bahnfahren ein zu Tode gerittenes, ein leichthin bei den Haaren herbeizuziehendes und die Haarspalterei anlockendes Zeitungsthema ist, ist klar und scheißegal; denn es ändert nichts daran, dass auch der Gutwilligste, nimmt er einen Zug Richtung Mainz, augenblicklich erfährt, wie offenkundig es heutzutage eine zum Haareraufen hanebüchene Angelegenheit darstellt.

Der Wirklichkeitsforscher Ror Wolf empfiehlt, beim Eisenbahnreisen den Gefahren der Verwicklung in unangenehme, werweiß weitreichende Folgen zeitigende Begegnungen dadurch vorzubeugen, indem man die fürchterlichen Zustände innerhalb des Waggons ignoriert und so einen intimeren Zusammenprall mit dort aufhältigen Menschen vermeidet. „Auf Reisen in Eisenbahnwagen“, schreibt Wolf in seinem hilfreichen Großen Ratschläger, „wo jeder äußere Zwang und jede gesellschaftliche Veranlassung zum Vorstellen fehlen, verfährt man ganz willkürlich.“ Dies gelingt indes nur, wenn die Menschenansammlungen nicht zu massiv ausfallen. Auf einer Eisenbahnreise nach Mainz sind die Abteile überfüllt, es kriechen die Fahrgäste wie Maden durch die Gänge, und jene, die sich einen Vorteil verschafft und einen Platz zum Ruhen erobert haben, beginnen ohne Umstände, Wurstpakete zu entblößen, die Hosenbeine hochzukrempeln, bis die Waden hervorquellen, Trinkgefäße zu öffnen und deren klebrige Inhalte zu verschütten sowie Elektrogeräte in Betrieb zu nehmen, um die schweißnassen, riechenden Haare zu fönen.

„Es würde zu weit führen, wenn wir hier jedes einzelne Haar mit seinen verschiedenen Schichten und Baueigentümlichkeiten schildern wollten“, bemerkt der Wahrheiterkunder Wolf sehr richtig. „Nur das sei erwähnt bei der Übersicht über die Haare: die Hauptmasse wächst auf dem Kopf und auf dem Kinn.“ Man möchte nicht stets das Haar in der Suppe suchen, doch während einer Eisenbahnreise nur von Frankfurt am Main ins nahe gelegene Mainz am Rhein gewärtigt der nicht durchaus missgünstig Gestimmte mehr entblößte und behaarte Waden als sonstwo auf der „Welt der Gesichtspelze und Nasenhaarpropfen“ (Kay Sokolowsky). Er glaubt, er käme dennoch im Wesentlichen bald ungeschoren davon, allein, die kurze Fahrt verzögert sich zunächst einmal um etliche Minuten, in denen die Sitznachbarin zwischen zwei Bissen von der Wurst an ihren Wadenhaaren herumzupft und bei jenem unschicklichen Tun eine Pinzette benutzt.

„In bezug auf die Richtung der Haare hat man zuweilen viel Unsinniges gehört“, so der Welterforscher Wolf, in einem Zug in Richtung Mainz sieht man sie allerdings in sämtliche Richtungen wachsen und stehen und in alle denkbaren menschlichen Verrichtungen hineingezogen. Beispielsweise ist es ganz unvermeidlich, auf dem Eisenbahnweg nach Mainz einem zweiten und betrunkenen und unzweifelhaft männlichen Wurstverspeiser gegenüberzusitzen, der während des Wurstessens mit der freien Hand in seinem zerwühlten Haar herumfährt, um Schuppen abzustreifen, und regelmäßig die Finger der Hand, die missliebige Haarpartikel zu entfernen sucht, ableckt und dergestalt säubert, wie es im Tierreich zur Gewohnheit gehört, aber sich nicht in einem Eisenbahnwagen ziemt.

Entkommt man diesen verheerenden, eisern verharrenden „Haarmenschen“ (Wolf) „mit einer fellartigen Behaarung über größere Körperstrecken hin“ (Wolf), empfangen den Mainzankömmling anderweitige Bedrohungsdimensionen. Um ein Haar wäre er unmittelbar nach dem Aussteigen in eine Baugrube gestürzt und zu Tode gekommen, ein rasender Gepäckwagen verpasst ihn haarscharf. Dieser Mainzer Bahnhof, sagt Herr Wolf, der sich mit Haut und Haar der Weltwirklichkeit verschrieben hat, sei gar kein Bahnhof mehr, er sei seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Er könne nicht eintreten in den Mainzer Bahnhof und daher nicht zur Begrüßung am Bahnsteig erscheinen, er befürchte das Schlimmste. Der Mainzer Bahnhof sei ein außerordentlicher, ein globaler Gefahrenpunkt, eine einzige Versammlung von Risiko und Tücke, die Eisdiele funktioniere auch nicht. Hierhin habe sich, kurzum, Gott an seinem reinlichen, weißen „Gesichtsbart“ vorbei erbrochen. JÜRGEN ROTH