Mauerblümchen wird nach Mitte verpflanzt

Vor zehn Jahren richtete sich eine Waldorfschule auf dem frisch geöffneten Mauerstreifen ein. Nun muss sie umziehen. Auch in dem neuen Gebäude treffen die Anthroposophen auf ein Stück der verworrenen Berliner Geschichte. Sie kämpfen mit der Mischung aus strengem Bauhaus und Stalin-Protz

von PETER BERZ

In der alten Platane vor dem allein stehenden Backsteinhaus an der Sebastianstraße, direkt auf der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Mitte, wachsen schwarze Bakelit-telefone. Im Herbst, wenn die Blätter gefallen sind, können die Kinder aus den Klassenzimmern des Gebäudes sie beim Schulschlafträumen sehen. Schwer zu sagen, was sie sich für Reime auf die Telefone machen.

Die ziemlich gescheiten Erwachsenen glauben an folgende Version. Vom Luisenstädtischen Realgymnasium an der Sebastianstraße, das aus dem 19. Jahrhundert stammte, hatten die Bomben des Zweiten Weltkriegs nur Ruinen und ein intaktes Gebäude stehen lassen. Als die Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg tödlich wurde, wurde die ganze Gegend planiert. Stehen blieb auf dem leeren Mauerstreifen, fünfzig Meter vom Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße, nur das Schulgebäude. Darin wurde eine Abhöranlage und Telefonzentrale für „Grenzinformationsaufgaben“ installiert. 1989 kletterten Kinder über die Mauer, streunten im Haus herum und schmissen Telefone aus den Fenstern. Einige landeten in den Bäumen.

„Kinder, so wurde uns schlagartig bewusst, haben eine andere Art, Vergangenes zu überwinden.“ So sehen das die derzeitigen Mieter von Haus und Umgebung, Eltern und Lehrer der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte. Seit zehn Jahren betreiben sie dort ein junges Schulprojekt Ost/West. Doch im Sommer wird es seinen Ort und damit sein Vergangenes wechseln: Umzug von der Mauer in die Mitte, aus der Abhöranlage in einen denkmalgeschützten Stalin-Bau nahe dem Hackeschen Markt.

1989, bei den großen Demonstrationen auf dem Alexanderplatz, so wird erzählt, war auch eine Frau zu sehen, die ein Pappschild mit der Aufschrift trug: „40 Jahre ohne Waldorfschule sind genug!“ Margarete Heinrich, eine ehemalige Waldorf-Lehrerin aus dem Westteil der Stadt, die in den 60ern ihrem Mann in die DDR gefolgt war, sammelte schon vor 1989 in Friedenskirche und freier Christengemeinschaft anthroposophisch Gleichgesinnte und Pankower Eltern, die, misstrauisch, was da käme, weg von staatlicher Erziehung überhaupt wollten.

Noch am Runden Tisch wurde beschlossen, das Gebäude auf dem Mauerstreifen dem Schulprojekt zur Verfügung zu stellen. Am ersten Schultag im September 1990 zogen Eltern und Schüler zwischen noch stehender Mauer und Vormauer zu einer Stelle mit herausgebrochener Platte: Eingang in den Pausenhof auf „Niemandsland“.

In den vergangenen zehn Jahren machte die Freie Waldorfschule Mitte daraus ein blühendes Gärtlein, mit Gewürzbeeten, Laube, Backsteinofen, Hügeln und Sportplätzen. Doch wo im Mutterhaus der Anthroposophie, dem „Goetheanum“ im elsässischen Dornach, die Architektur den Kalk, „der aus dem Lebendigen kommt“, mit schiefen Fenstern und organischen Säulen feiert, da musste in Berlin aus der Not manche Unterrichtsstunde in schwer beheizbare Container oder im Sommer gleich ins Freie verlegt werden.

Das Freie in der Stadt aber hat es in sich. Die leer stehenden Häuser hinter der Schule, ehemals Osten, waren nach 1989 schnell besetzt worden. Eine Wagenburg und „Punks“, wie man hier sagt, waren die ersten Nachbarn. Jeden Morgen lagen Spritzen im Gärtlein. Und als die Mauer ganz abgebaut war, kamen türkische Kids aus dem benachbarten Kreuzberg in die Schule, in der es keine türkischen Schüler gibt, und pflügten nachts auf ihre Weise das Gärtlein.

Das Problem wuchs sich aus, man veranstaltete Runde Tische, auf denen sich theosophische Dialoge entspannen der Art: „Also, wenn mein Vater mich geschlagen hat, dann kenn ich nichts mehr.“ – „Was, dein Vater schlägt dich auch?“ Das Schulfest im letzten Sommer sah türkische Jungs unter dem frenetischen Applaus der Waldorf-Jugend endlose Breakdances vorführen.

Das „Mauerblümchen“ in der Dresdener Straße war jedoch von Anfang an ein Unternehmen auf Zeit: Rückübereignungsansprüche. Früher oder später würde man umziehen oder eine ganz neue Schule bauen müssen. Architekt Jens Ebert skizziert seit Jahren eine Art Berliner Goetheanum. Es kam anders. Die reine Lehre von „Architektur und Waldorfpädogik“ wird nach vielem Suchen, Sparen und Spenden an den selbst ernannten Nabel des neuen Berlin verpflanzt: in ein Schulgebäude an der Weinmeisterstraße, nahe dem Hackeschen Markt, dorthin also, wo seinerzeit der Gründerboom der New Economy und der schicken Kneipen ausbrach.

Die neue Schule hat viel Platz, eine große Aula, Schulhof, Sportplätze – ein echte Schule eben. Aber bevor im Herbst zum ersten Mal die Pausenglocke läuten kann, warten Renovierung und Umbau. Dabei stoßen Eltren, Lehrer und Schüler nicht nur auf künstlerische Fragen der Gestaltung, sondern erneut auch auf Vergangenes.

Die 9. Klasse der Waldorfschule hat es recherchiert: Der erste Bau an der Weinmeisterstraße stammt aus Gründerzeit. 1870 wurde dort das Sophien-Gymnasium errichtet. Der zweite Weltkrieg zerstörte die Bauten, übrig blieb in einer denkmalschützerischen Laune allierter Bombenstreuung allein das Direktoriumsgebäude mit Allegorien der Erziehung als Dachfries.

Dieses funktionierten die Sowjets zum Kreispionierhaus Bruno Kuhn um. 1954 wurde schließlich ein Neubau eingeweiht: die damals modernste und größte Grundschule im östlichen Teil Berlins. Der Architekt kam, wie alle Architektur des jungen Sozialismus, aus der Bauhausschule. Er führte sensationelle Neuerung ein. Die Gänge etwa haben nicht mehr auf beiden Seiten Klassenräume, sondern nur noch auf einer. So gibt es statt langer, dunkler Flure, helle und lichtdurchflutete. Doch damals gab es in der DDR schon andere architektonische Vorlieben. So musste auch die Schule von reinem Bauhaus auf „Stalin-Stil“ getrimmt werden, das heißt: griechische Säulen als Fassade, Winkebalkon als Eingang und die große Aula mit zentnerschweren Filmprojektoren aus sowjetischen Beständen.

All das hat der Schule beim Bauamt Mitte das Prädikat „denkmalgeschützt“ eingetragen. Doch Gebäude sind leichter zu schützen als ihre Institutionen. So wurde die nun hier ansässige „Oberrealschule Scheunenviertel“ 1999 geschlossen, weil die Schülerzahl sank. Seit eineinhalb Jahren steht das Haus leer, die Fenster zum Hof sind vergittert, es riecht nach DDR-Putzmittel und auf den Garderobenhäkchen stehen noch Namen der Schüler, die inzwischen den Weg in umliegende Gesamt- und Realschulen machen müssen.

Nun kämpfen nicht nur Denkmalschützer mit Waldorf-Pädagogen um das Aussehen der kommenden Schule, sondern hier wollen Welten ineinandergebaut sein. „Ein bisschen die physische Welt überschreiten und sich mit der geistigen verbinden“, wie Architekt Ebert die Aufgabe gebauter Waldorf-Pädagogik formuliert, ist nicht leicht, wenn der Eingang auf Bezirksparteisekretäre hin gedacht ist, aber keine „empfangende Gebärde“ hat, die Agitprop-Aula „Ausrichtung auf einen Punkt“ baut, aber nicht „umhüllend und beherbergend wirkt“.

So bleibt im Ringen ums Geistige und mit Bezirksämtern vor allem die Mitgestaltung des jugendlichen Organismus durch die Goethesche Farbenlehre (deren Herausgabe einen Studenten namens Rudolf Steiner vor dem Irrenhaus rettete). Die richtige Farbe im richtigen Alter befördert danach die organische Reifung beim Kind, Falschfarben erzeugen ausgefranste Lebern und kaputte Lungen. Die neu gestalteten Klassenräume werden deshalb in Farben getaucht sein, die sich im Licht der Bäume von draußen je nach Jahreszeit verändern. Um bauliche Veränderungen an Aula, Treppen und Eingang wird noch gestritten.

Von Farbe allerdings hatten auch die alten Schüler der Weinmeisterstraße so ihre Auffassungen: in fettem Rotgelbblau pinselten sie die Silhouette von New York und die Freiheitsstatue auf die Wände des Sowjetbaus. Doch die 16-jährigen Waldorfschüler wissen damit umzugehen. Bei ihrem Tag der offenen Tür antworten sie mit HipHop und Californian Dream.