Prüfung für Propagandisten

von RALF GEISSLER

Darf man das durchgehen lassen? Wenn einer jahrelang Freunde bespitzelt, über Kollegen heimlich Berichte schreibt und später so tut, als sei nie etwas gewesen? In den meisten Fällen schon, urteilte der Personalausschuss des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) noch Mitte der Neunzigerjahre. Doch jetzt ist er dabei, diese Entscheidung zu überdenken. Am heutigen Montag will das Gremium dem MDR-Rundfunkrat neue Kriterien vorlegen, wie mit Journalisten umgegangen werden soll, die in der DDR im Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gespitzelt haben.

Fast zwölf Jahre nach der friedlichen Revolution hat der öffentlich-rechtliche Sender begonnen, alle Mitarbeiter auf Stasi-Tätigkeit zu überprüfen. Bei der Gauck-Behörde werden Akten von einst linientreuen Journalisten gesucht. MDR-Intendant Udo Reiter gibt sich alle Mühe, das Image vom Vertuscher des Stasi-Problems loszuwerden. Kein Wunder. Geht es den Stasi-Aufklärern doch nicht nur um die Vergangenheit ihrer Kollegen, sondern auch um die Zukunft: den Posten des Intendanten.

Die Moderatorin des vom MDR produzierten politischen ARD-Magazins Fakt, Sabine Hingst, musste sich als Informeller Mitarbeiter (IM) outen. Der MDR-Literaturchef Michael Hametner soll einst ebenso wie der Exkorrespondent in Washington und noch über ein Dutzend andere für das Staatssicherheitsministerium gearbeitet haben. Intendant Reiter hat das Problem erst klein geredet, dann aber doch begriffen: Eine Zusammenarbeit mit der Stasi kann man nicht so einfach abtun wie die Mitgliedschaft in der SED.

Im Gegensatz zu Udo Reiter ist diese Erkenntnis bei vielen Chefs ostdeutscher Tageszeitungen bis heute nicht angekommen. „Nur wenige ehemalige SED-Bezirkszeitungen haben ihre Mitarbeiter auf eine mögliche Stasi-Tätigkeit überprüft und Konsequenzen gezogen“, sagt der Berliner Rechtsanwalt Johannes Weberling. „Deswegen haben viele auch ein Problem, über die Aufarbeitung beim MDR kritisch zu berichten.“

Weberling hat das Stasi-Unterlagen-Gesetz kommentiert und 1994 eine Untersuchung zu Stasi-Verstrickungen angeregt. „Es war natürlich klar, dass wir auch Akteure benennen werden“, sagt er heute. Wissenschaftler unter der Leitung des Dresdners Ulrich Kluge erforschten die Berliner Zeitung, die Märkische Oderzeitung und die Sächsische Zeitung, ihre Arbeit führte Ende der Neunziger zu mehr als einem Dutzend Entlassungen enttarnter Stasi-Journalisten. Bis heute blieb die Studie unter dem Titel „Willfährige Propagandisten“ die einzige in ihrem Umfang.

Als Weberling die Studie in Auftrag gab, war er Personalchef der Berliner Zeitung. Dass es ihm damals um Aufarbeitung ging und nicht darum, über Stasi-Vorwürfe den Berliner Verlag zu verschlanken, glaubt ihm beim Deutschen Journalistenverband (DJV) keiner. „Weberling hat mit einem Trick das Stasi-Unterlagen-Gesetz ausgehölt“, schimpft die DJV-Sozialexpertin Gerda Theile. Das Gesetz erlaubt nur den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, alle Mitarbeiter zu überprüfen, bei privaten Unternehmen beschränkt es dieses Recht auf Führungspositionen. Nur mit Hilfe des Umwegs der wissenschaftlichen Arbeit konnte sich der einstige Personalchef Weberling auch über jeden Redakteur erkundigen.

Journalistenverband hält sich raus

Der Deutsche Journalistenverband hat nie besonders kritisch nach Stasi-Verstrickungen ostdeutscher Journalisten gefragt. Nach Weberlings Studie ist die Bereitschaft, sich mit ostdeutscher Vergangenheit zu befassen, eher kleiner geworden. „Wir maßen uns zur Frage, ob bei den Medien dort ausreichend nach Stasi-Vergangenheit gesucht wurde, kein Urteil an“, so Gerda Theile.

Dabei ist bei ostdeutschen Journalisten das Bedürfnis nach Aufarbeitung groß, glaubt der Chefredakteur vom Freien Wort aus Suhl, Gerd Schwinger. Seine Redaktion ist nach eigener Auskunft die einzige, die aus sich selbst heraus das Thema Stasi-Mitarbeit von Kollegen untersuchte. Auf die Idee kam Schwinger allerdings auch erst, als die Bild-Zeitung seinen Landtagskorrespondenten und einen weiteren Journalisten als Stasi-Spitzel outete.

Daraufhin traf der Verlag mit seinen Redakteuren eine Vereinbarung. Sie sollten bei der Gauck-Behörde eine Selbstauskunft beantragen und anschließend das Ergebnis im Haus veröffentlichen.

„Von 52 Redakteuren haben sich 50 beteiligt“, sagt Schwinger. Bei 8 fand die Gauck-Behörde Akten. Ein Ausschuss aus drei Mitarbeitern und dem Bürgerrechtler Matthias Büchner bewertete jeden dieser acht Fälle und sprach mit den Betroffenen über die Umstände und Hintergründe ihrer Stasi-Tätigkeit. In einem Fall wurde schließlich ein Aufhebungsvertrag vereinbart. „Andere Zeitungen sollten dieses Verfahren ebenfalls machen“, empfiehlt Schwinger. Es sei die einzige Möglichkeit, ohne externen Chefaufklärer das Thema Stasi aufzuarbeiten. „Nur wenn man behutsam und freiwillig das Thema angeht, nimmt man den Betroffenen die Angst, sie werden vom Westen aufs Schafott geführt.“ Angesichts der Stasi-Debatte beim MDR will Schwinger nun auch noch seine regelmäßigen freien Mitarbeiter zu einer Überprüfung bewegen.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht keine Freiwilligkeit. Für ihn gibt es einen gesetzlichen Weg der Überprüfung: die Regelanfrage. Mit ihr überprüft der MDR jetzt alle Angestellten. Der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg und der Norddeutsche Rundfunk mit seinem Landesbüro in Schwerin haben das bereits vor Jahren getan.

Anders lief es beim Sender Freies Berlin und dem ZDF, das in allen fünf ostdeutschen Bundesländern Studios unterhält. Dort mussten Journalisten aus der ehemaligen DDR unterschreiben, dass sie nicht mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. „Jedem wurde mitgeteilt, dass wir das prüfen können“, sagt ZDF-Sprecher Walter Kehr. Praktisch haben solche Kontrollen aber nur in wenigen Verdachtsfällen stattgefunden. Auch dem ZDF könnte deshalb in abgeschwächter Form eine ähnliche Debatte blühen wie dem MDR. Gerade ist der Sender um das Thema noch einmal herumgekommen. Der als IM enttarnte MDR-Moderator Oliver Nix war für eine neue Wissenschaftssendung im Zweiten im Gespräch, erzählt ZDF-Sprecher Kehr. „Jetzt liegen die Verhandlungen erst mal auf Eis.“