Wider die Freihandelseuphorie

Der brasilianische Präsident Cardoso war der Einzige, der auf dem Gipfeltreffen der Globalisierungsanhänger ein kritisches Wörtchen zu sagen hatte

von GERHARD DILGER

Die Zeiten, in denen sich Amerikas Staatsoberhäupter ungestört zum Plausch über Handelsfragen, Demokratie oder Strategien des „Drogenkriegs“ versammeln konnten, sind vorbei. Im kanadischen Québec wollte George W. Bush sein Debüt auf der Bühne der kontinentalen Diplomatie absolvieren und dem Projekt der panamerikanischen Freihandelszone FTAA neuen Schwung verleihen. Auf einem Ministertreffen war vor zwei Wochen in Buenos Aires der Zeitplan für die nächsten Jahre festgeklopft worden. Auch über das große Ziel der FTAA, die weitere Liberalisierung der Handelsströme auf dem Kontinent, schien man sich einig.

Doch die immer lautstärkere Protestbewegung der Freihandelsgegner ließ Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso zum Star von Québec werden. Da Fidel Castro auf Betreiben der USA erneut nicht eingeladen worden war, blieb es dem großen Rhetoriker Cardoso vorbehalten, zur Eröffnung des Gipfels am Freitagabend den Diskussionsrahmen für die nächsten Jahre abzustecken.

In ungewohnter Deutlichkeit artikulierte er einige der Ängste, die viele AmerikanerInnen in Nord und Süd in Bezug auf die FTAA umtreiben: Der Globalisierungsprozess dürfe nicht zu einem „unaufhaltsamen Abstieg zur kulturellen Homogenisierung“ werden. Auf der kuturellen Ebene sei die „Differenz ein Wert für sich“. Kein „Einheitsdenken“ dürfe den Nationen den Weg weisen. Eine Art von „ungerechter Diversität“ gelte es jedoch zu beseitigen: „die tiefe Ungerechtigkeit der Einkommen und der Lebensverhältnisse sowohl innerhalb der Länder wie auch zwischen den Ländern“.

Für Brasiliens Regierung sei die FTAA willkommen, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. So müssten der „Zugang zu dynamischeren Märkten“ gewährleistet, einheitliche Anti-Dumping-Regeln erarbeitet sowie „protektionistische Verzerrungen“ von Gesundheitsbestimmungen abgebaut werden. Der Schutz des geistigen Eigentums dürfe dem Ausbau der „technologischen Möglichkeiten unserer Völker“ nicht entgegenstehen. Schließlich forderte Cardoso, die „Asymmetrien“ im Agrarsektor zu korrigieren. Andernfalls sei die FTAA „irrelevant oder, im schlimmsten Fall, unerwünscht“. Und auch für die Protestbewegung fand er warme Worte: Die DemonstrantInnen fürchteten „eine Globalisierung ohne menschliches Gesicht“.

Das Plädoyer des brasilianischen Präsidenten für einen Freihandel auf Gegenseitigkeit ist zugleich ein deutliches Eingeständnis, dass Lateinamerika – wie andere Länder des Südens – von der einseitigen Öffnung seiner Märkte nicht wie erhofft profitiert hat. Bezeichnenderweise erhob sich nur einer von Cardosos Kollegen, um ihm zur Rede zu gratulieren: Venezuelas Präsident Hugo Chávez, dessen eigenwillige diplomatische Vorstöße immer wieder misstrauisch von Washington beäugt werden.

„Rückkehr zum Kolonialismus“

In der lebhaften innerbrasilianischen Debatte über die FTAA nehmen die Befürchtungen zu, Brasilien werde bei den Verhandlungen von den USA über den Tisch gezogen. Die kritischen Stimmen reichen weit ins bürgerliche Lager hinein. Viele brasilianische Unternehmen fürchten die Konkurrenz der Multis aus dem Norden. Der Diplomat Samuel Pinheiro Guimarães etwa meint, die FTAA werde den Bemühungen um einen eigenständigen brasilianischen Entwicklungsweg endgültig den Todesstoß versetzen.

Am deutlichsten artikuliert sich der Widerstand in jenen Kreisen, die das Weltsozialforum von Porto Alegre getragen haben – den Gewerkschaften, der Landlosenbewegung MST, der oppositionellen Arbeiterpartei PT sowie vielen Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen. Für den PT-Parlamentarier Aloizio Mercadante, der in Québec am Gegengipfel der „Völker Amerikas“ teilnahm, droht eine „Rückkehr zum Kolonialismus“ und „eine wirtschaftliche, soziale und politische Destabilisierung der gesamten Region“. Mercadante ist exponierter Vertreter des reformistischen PT-Flügel, der in Parlamentsfraktion und Partei die Mehrheit stellt.

Ebenso wie der Gewerkschaftsdachverband CUT setzt diese „sozialdemokratische“ Strömung der PT ganz pragmatisch auf eine Stärkung und soziale Ausgestaltung der Zollunion Mercosur, der neben Argentinien, Uruguay und Paraguay als assoziierte Mitglieder Chile und Bolivien angehören. Der Pferdefuß dabei: In allen Partnerländern Brasilien ist der Druck von unten auf die neoliberalen Regierungen bedeutend schwächer. Zudem steckt der Mercosur seit der Abwertung des brasilianischen Real Anfang 1999 in einer Krise, die sich durch Alleingänge Chiles und Argentinien noch vertieft hat.

Radikaler wenden sich intellektuelle Vordenker wie der Soziologe Emir Sader oder die MST gegen die neoliberale Ausrichtung von Mercosur und dem FTAA-Projekt. Sader hat wenig Hoffnung, dass die lateinamerikanischen Parlamentarier ihren Regierungen bindende Vorgaben für die Verhandlungen aufzwingen können, so wie es der US-Kongress tut. Deshalb fordert er eine Kampagne für Volksabstimmungen über die Freihandelszone. Auch Landlosensprecher João Pedro Stedile hofft auf eine breite Mobilisierung der Bevölkerung. Doch kurzfristig rechnet er nicht damit, und geradezu kontraproduktiv ist für ihn die Strategie der PT, durch einen gemäßigten Diskurs die Wahlen 2002 gewinnen zu wollen.

Parallel zu den Protesten in Québec meldeten sich in São Paulo rund tausend militante GlobalisierungsgegnerInnen zu Wort. Deren Kundgebung im Finanzzentrum der Avenida Paulista beendete die Polizei in bewährter Manier: mit Gummiknüppeln und Tränengas.