Engel der allgemeinen Verunsicherung

■ Unbedingt hingehen: Der Anarcho-Clown und Publikumsbespritzer Leo Bassi gastiert im Jungen Theater Bremen und beschert seinen ZuschauerInnen eine existenzielle Erfahrung

In den ersten Reihen wird man schnell nervös, nur mit guten Duckreflexen entkommt man den Colaspritzern, und später am Abend droht noch Ärgeres! Leo Bassi, ein kleiner, dicklicher, eigentlich ganz harmlos aussehender Clown aus Italien, ist ein Virtuose der Publikumsverängstigung. Keiner kann bei seinen Performances so richtig sicher auf seinem Platz sitzen, denn er klingt verteufelt überzeugend, wenn er ausführt, warum es gar keine schlechte Idee wäre, sein Publikum abzuschlachten: CNN würde ihn mit Breaking-News aus Norddeutschland weltberühmt machen, und auch das Junge Theater Bremen wäre sofort das bekannteste Theaterprojekt unseres Landes.

Da ist man froh, wenn er nur einem armen Opfer aus der vierten Reihe das „Reebock“-Emblem aus dem T-Shirt schneidet, weil er solche Zeichen der Zeit des globalen Kommerzes nun mal nicht ausstehen kann. Dies hat er dem Publikum auch in sehr eloquentem Englisch amüsant und schlüssig erklärt: Wie perfekt ist doch deren Manipulation, wenn sie uns noch dafür zahlen lassen, dass wir unsere Körper als Werbeflächen für ihre Produkte zur Verfügung stellen. Bei diesen Ausführungen streift Bassi die ganze Zeit mit einer Schere durch das Publikum und nimmt dabei alle Hemden, T-Shirts und Jacken genau unter die Lupe. Das verunsichert ungemein.

„Das ist hier kein Fernsehen, ihr sitzt mittendrin!“ lautet der Schlüsselsatz eines Auftritts von Leo Bassi. Und er weiß genau, wie er sein Publikum packen kann: Das ist nie plump. Selbst so etwas Kindliches wie das Nassspritzen bekommt bei ihm zuerst eine weltgeschichtliche Basis und dann einen dramatischen Spannungsbogen, der noch am ehesten mit dem von Hitchcockfilmen zu vergleichen ist. Bassi zeigt seinem Publikum erst mal die Instrumente und zieht dann die ängstliche Erwartung des Ausbruchs so lange heraus, bis er die größtmögliche Wirkung erzielt hat. Das hat gar nichts mit den zurzeit so beliebten Comedystars zu tun, deren Gags und Tabubrüche peinlich, plump und dümmlich gegen Bassis anarchistische Umtriebe wirken.

Bei ihm wird kein Witz nur für den Lacher gemacht, seine Performance ist eher eine Philosophiestunde als eine Show zum Ablachen. Und wirklich böse ist er auch nie zu seinem Publikum: Er ist nur ein Clown, der ganz genau weiß, wo er mit seinen Lachern hin will. Er lässt uns seine Tricks durchschauen und hat schon längst den nächsten parat, auf den wir genauso gründlich hineinfallen. Und man muss ihn schließlich lieben, weil er vor allem grandios einen Narren aus sich selbst macht. Es soll nicht zu viel verraten werden – nur noch das: Mit Honig und Federn verwandelt er sich zum großen Finale in einen Engel, der nackt unter dem Bremer Himmel tanzt. Gehen Sie hin, seine Auftritte sind existenzielle Erfahrungen. Vielleicht werden Sie dabei nass, aber dafür erfahren Sie, warum der Papst nie einen Tanga kaufen würde. Wilfried Hippen

Weitere Auftritte: heute, Dienstag, und morgen, 20.30 Uhr, Junges Theater im Güterbahnhof, Tor 48, hinter dem Übersee-Museum