Der  Koloss  bewegt sich

aus Yokohama ANDRÉ KUNZ

Das Land war politikmüde. Seit Jahrzehnten. Die immer gleiche Regierungspartei stellte nach den immer gleichen Kungeltaktiken mit unschöner Regelmäßigkeit Premiers, die austauschbar erschienen. Der Bevölkerung war das egal. Nur 3,5 Prozent der Einwohner interessierten sich nach Umfragen stark für Politik. Zwei Drittel der Wahlberechtigten dagegen hielten das politische Treiben folgerichtig schlicht für Theater, das dem Land wenig helfe.

So war das in Japan – mit ganz wenigen kurzen Ausnahmen – bis zum Wochenende. Seit gestern ist das, zumindest vorübergehend, wieder anders. Denn im Rennen um die Nachfolge des japanischen Premiers Yoshiro Mori hat der Außenseiter Junichiro Koizumi einen Erdrutschsieg an der Parteibasis der dauerregierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) errungen. In den Primärwahlen der lokalen Parteiverbände gewann der ehemalige Gesundheitsminister mehr als 80 Prozent der Stimmen. Das klare Ja der Basis sollte Koizumi reichen, um heute das Rennen um das LDP-Parteipräsidium und damit das Amt des japanischen Premiers zu gewinnen. Sein stärkster Gegner, der Expremier und derzeitige Minister für Verwaltungsreformen, Ryutaro Hashimoto, liegt mit nur 10 Prozent der lokalen Stimmen weit abgeschlagen zurück.

Bereits am Montagabend bestätigte Hiromu Nonaka, der ehemalige LDP-Generalsekretär, den faktischen Sieg Koizumis. „Wir müssen nun darauf hinarbeiten, dass die Fraktion von Expremier Hashimoto mit Koizumi zusammenarbeitet“, meinte Nonaka und gab damit die Niederlage seines Schützlings Hashimoto zu. Wenn heute die 346 Abgeordneten im Parlament die Stimmen abgeben, werden sie sich nach dem Votum der Parteibasis richten müssen. „Es wäre politischer Selbstmord, gegen den Willen der Basis nun trotzdem Hashimoto ins Amt zu heben“, erklärte Minoru Morita, ein einflussreicher politischer Kommentator in Tokio.

Zum ersten Mal durfte die Parteibasis bei der Wahl eines Parteipräsidenten mitbestimmen. Mit ihrer Mobilisierung für sich schaffte Koizumi eine kleine Revolution in der LDP. Die offene Wahl verhinderte das traditionelle Taktieren in Hinterzimmern. Der dort von den einzelnen Parteifraktionen ausgewählte Premier hatte sich nach der Wahl dem Diktat der „Schattenschogune“, wie die mächtige Garde von altgedienten LDP-Politikern auch genannt wird, zu beugen. Koizumis Erdrutschsieg an der Parteibasis hat ihm nun den Rücken dafür frei gemacht, ein wichtiges Versprechen aus dem Wahlkampf umzusetzen. In seiner Wahlplattform unter dem Slogan „Ändern wir die Liberal-Demokratische Partei und Japan“ versprach Koizumi, die nächste Regierung frei zu bilden und nicht dem klassischen Modell zu folgen, nach dem Minister nach Alter, Parteikarriere und Faktionszugehörigkeit ernannt werden. Er werde Jungpolitiker, Frauen und fähige Leute aus der Privatwirtschaft in die Ministerien holen, erklärte Koizumi.

Dieser frische Wind aus den Reihen der Regierungspartei weckte sprunghaft das Interesse der Bevölkerung am politischen Prozess. „Wenn die Liberal-Demokraten Koizumi freie Hand lassen, seine Vorstellungen umzusetzen, werde ich in den Oberhauswahlen vom Juli wieder LDP wählen“, sagte Kimiko Matsumoto, eine junge Mutter von drei Kindern im Vorschulalter. Frau Matsumoto gehörte bis vor zwei Jahren zu den LDP-Stammwählerinnen, war dann aber so enttäuscht von der Wirtschaftspolitik der Regierung, dass sie in den beiden letzten Wahlgängen für die oppositionelle Sozialdemokratische Partei stimmte. Bei den Oberhauswahlen wollte sie gar nicht mehr zur Urne gehen, weil sie von der Politik vollends die Nase voll hatte.

Frau Matsumoto gehört damit zu der überwältigenden Mehrheit von frustrierten JapanerInnen, die sich zu politisch Desinteressierten wandelten. Die Politikverdrossenheit der Japaner wird zwar nicht erst in den vergangenen Jahren beklagt, sondern ist seit drei Jahrzehnten ein Dauerthema. Wer die Ursache für den sprichwörtlichen Abscheu vor Politikern aber allein in der skandalgeplagten Liberal-Demokratischen Partei (LDP) suchen würde, läge falsch.

Die Oppositionsparteien, allen voran die Demokratische Partei und die Liberale Partei – beide angeführt von ehemaligen LDP-Strippenziehern –, sind noch unbeliebter als die Regierungspartei. Denn sie haben die vergangenen zwei Krisenjahre damit verbracht, die Wirtschaftspolitik der Regierung zu geißeln, ohne dem Stimmvolk mehrheitsfähige Alternativen anzubieten. Ebenso wenig Wählervertrauen genießen die beiden Koalitionspartner der LDP, die der neubuddhistischen Sekte Soka Gakkai zugewandte Neue Komeito und die Konservative Partei. Beide gelten als Trittbrettfahrer, die unter der Fuchtel der Regierungspartei stehen. Eine einzige Ausnahme bildet die Kommunistische Partei Japans, die in Umfragen regelmäßig als verlässliche Minderheitspartei auftaucht, aber wegen ihres Namens und Programms ebenso regelmäßig als chancenlos für eine Regierungsbeteiligung genannt wird.

Die ernüchternde Bilanz der Umfragen: Unter dem Strich trauen die japanischen Wähler der Regierungspartei noch immer mehr als irgendeiner anderen Partei. „Die LDP stand immer wie die Sonne in der japanischen Politik. Die Oppositionsparteien drehten sich in wechselnden Bahnen wie Planeten um die LDP herum, und ohne die Anziehungskraft der Sonne verlieren sie ihren Halt“, erklärt ein politischer Beobachter die Situation in Tokio. Bis vor zwei Wochen schien es, als ob diese Sonne nun endgültig am Erlöschen sei. Die LDP war mit dem unbeliebten Premier Yoshiro Mori in der Wählergunst auf Rekordtiefen gesunken, die in der Parteibasis eine nie gekannte Krisenstimmung ausgelöst hatten.

Die Warnleuchten innerhalb der Regierungspartei waren spätestens nach dem lokalen Wahlgang in der Präfektur Chiba östlich von Tokio aufgeflammt. Nach fünfundfünfzig Jahren kontinuierlicher Machtausübung verlor der LDP-Kandidat in dieser Provinz erstmals das Rennen um den Gouverneursposten. Eine unabhängige, von Frauengruppen gestützte Kandidatin, die eine Wende in der Präfekturpolitik versprach, wurde ins Amt gehoben. Der einzige Trost für die Regierungspartei war die Tatsache, dass die Oppositionsparteien ebenfalls zu den Verlieren gehörten.

Während die alte LDP-Garde das Abstimmungsergebnis aus Chiba zu beschönigen versuchte, zog Koizumi schnelle Lehren aus dieser Warnung und versprach Reformen. Er ist inzwischen zu einem der beliebtesten Politiker aufgerückt und wird in Umfragen von mehr als 60 Prozent der Bevölkerung gestützt. Es wäre allerdings voreilig, ihn schon als den großen Reformer Japans zu feiern. Im Gegenteil. Koizumi mischte bisher kräftig mit an der Parteispitze und galt als loyaler Partner seines Faktionskollegen, des Nochministerpräsidenten Mori. Doch mit der Palastrevolution, die von jungen LDP-Abgeordneten und der beliebten LDP-Politikerin Makiko Tanaka unterstützt wurde, hat Koizumi innerhalb einer Woche eine Demokratisierung innerhalb der Regierungspartei durchgesetzt.

Damit hat der frühere Gesundheitsminister, dessen wirtschaftspolitisches Programm noch umstritten ist, zumindest das Vertrauen der japanischen Wähler in die politische Erneuerungskraft der Regierungspartei zurückgewonnen. Koizumi hat nun genau drei Monate Zeit, um die in Umfragen vorhergesagte Niederlage der LDP in den Oberhauswahlen zu verhindern.