Mühen der Ebene auf Fahrt

Komsomol und zwei Kurzfilme der Kinozüge im Metropolis  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Von der nachholenden Industrialisierung in der jungen Sowjetunion ist vor allem ihre Geschwindigkeit bekannt – und die Art und Weise, in der sie die unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung oft ignorierte und ignorieren musste, wollte sie den Zeitvorsprung etwa von England, Frankreich oder Deutschland wettmachen. Weniger bekannt sind die Mühen der Ebene, ist die Klein- und Kleinstarbeit, mit der die Bevölkerung die 1923 auf dem X. Parteikongress beschlossene „Neue Ökonomische Politik“, bekannt als „NEP“, umsetzte und: mit wie kleinteiligen Mitteln in der Bevölkerung für eine Akzeptanz der mit der NEP verbundenen Arbeit geworben wurde. Wenn das Metropolis heute zu der Wiederaufführung von Ester Schubs Komsomol – Pate der Elektrifizierung zwei Kurzfilme aus den Kinozügen von Alexander Medvedkin zeigt, wird etwas von diesen Mühen der Ebene sichtbar.

Mit Filmgazeta Nr. 4 und Wie lebst du, Genosse Bergarbeiter? sind erstmalig in Deutschland zwei der kurzen Filme zu sehen, die in den sowjetischen Kinozügen entstanden sind. Kinozüge waren eines der Mittel, mit denen von 1932 an dem ersten Fünfjahresplan auf die Sprünge geholfen werden sollte. Anders als bei den so genannten Agitzügen der früheren Jahre, die allenfalls einen mobilen Vorführraum enthielten, waren hier auf drei Wagons ein zweiunddreißigköpfiges Filmteam, ein Entwicklungslabor und ein Schneideraum mit acht bis zehn Arbeitsplätzen untergebracht. In wenigen Stunden konnten so Filme gedreht, entwickelt, geschnitten und den Arbeitern vor Ort sofort vorgeführt werden. Was andernorts erst Jahrzehnte später durch Fernsehen, noch später durch Videotechnik möglich wurde, hier war es schon Anfang der 30er-Jahre Wirklichkeit: Die Gefilmten konnten sich zu ihrem großen Erstaunen – und Vergnügen – schon wenige Stunden später selbst sehen.

Sinn der von Medvedkin ersonnenen Züge sollte es sein, den fraglichen Bauern und Arbeitern noch in den entlegensten Gebieten der Sowjetunion die Fehler ihrer Arbeit direkt vor Augen zu führen und Verbesserungen zu diskutieren. So deckte etwa einer der Filme auf, dass nur zwölf Kilometer von ihrer Produktionsstätte entfernt die Kupplungen neu erbauter Loren gleich wieder abgesägt und durch bessere ersetzt wurde. Und obwohl den Arbeitern am Produktionsort das Problem seit längerem bekannt war, führte erst das filmische Dokument der „spontanen Selbsthilfe“ von der Stätte ihrer Anwendung zum Erfolg. Medvedkins Filmgazeta Nr. 4 wurde 1932 in einem Lokomotivendepot der Stadt Denpropetrowsk gedreht und zeigte den Arbeitern Mängel bei den Reparaturen auf. Wie lebst du, Genosse Bergarbeiter? von Karmazinski dagegen widmete sich im selben Jahr – eher ungewöhnlich im Sujet – der Wohn- und Lebenssituation der Kumpel und ihrer Familien in einer ukrainischen Bergbausiedlung. Hier richtete sich einmal die Kritik weniger an die Arbeiter selbst als an die für ihre erbärmliche Lebenssituation zuständigen Behörden.

Im westlichen Europa bekannt gemacht hat die Kinozüge Medvedkins erst Chris Marker am Ende der 60er-Jahre. Prompt fanden sich Nachahmer in Sachen linke Aufklärungsfilme: in Frankreich die Gruppe Medvedkin, die sich um Marker versammelte, und sogar in Deutschland, wo sich Anfang der 70er um den Filmemacher Peter Krieg (Septemberweizen) eine – allerdings schnell an politischen Streitigkeiten wieder zerbrechende – Gruppe scharte.

Ester Schubs Komsomol – Pate der Elektifizierung, ihr erster Tonfilm, enstand ebenfalls im Jahr 1932. Auch er steht ganz im Dienste des ersten Fünfjahresplans. Ohne Archivbilder, breite Verallgemeinerungen oder die durch den Aufeinanderprall der Kontraste in der Montage erzeugten Metaphern, wie man sie von Schub gewohnt war, nähert sich der Film dem Problem von Planungsrückständen in der Turbinenfabrik „Elektrokraft“. Wie sehr sich die Sowjetunion in dieser Zeit bemühte, ökonomisch dem US-amerikanischen Beispiel zu folgen, zeigen nicht nur die verschiedentlich in der Fabrik auftauchenden amerikanischen Berater. Am deutlichsten vielleicht zeigt sich der Einfluss fordistischer Produktionsweise und -verhältnisse in kulturellen Ausdrucksformen: Der Tanz einiger Matrosen, den diese zur Unterhaltung der Arbeiter in einer Versammlung aufführen, verbindet nicht nur traditionelle russische Formen des Tanzes und klassisches Ballett, sondern auch den Slapstick eines Charlie Chaplin und den Steptanz von Hollywood-Musicals.

Do, 19 Uhr + So, 17 Uhr, Metropolis