: Mythische Halbwesen
Behinderte werden auf der Leinwand bis heute in einer zweifelhaften Mischung aus Monstershow und Verklärung präsentiert. Auch wenn neuere Filme mit einigen Vorurteilen aufgeräumt haben – der Mainstream klammert sich immer noch an die klassische Motivgeschichte zwischen Strafe und Mission
von BIRGIT GLOMBITZA
Das Monströse ist seine Leidenschaft. Das Kino liebt die Wahnsinnigen, die Idioten, die Autisten und die Hysterischen. Es ist verrückt nach allem, was nicht richtig tickt, spricht oder geht. In den Behindertenaufzügen zu seinem Olymp wimmelt es von Frauen, die sich nicht richtig artikulieren können oder am Rande des Nervenzusammenbruchs stehen. Wie unlängst Juliette Lewis als eifrig lallende Zurückgebliebene in „Ganz normal verliebt“ oder Winona Ryder, die sich als Bambi in „Durchgeknallt“ durch den dunklen Wald der Psychiatrie wagt – um sich nach einer Menge Seelenzirkus wieder für die Vorzüge des bürgerlichen Lebens und des „gesunden“ Menschenverstandes zu entscheiden. Ein pubertärer Ausflug in eine Parallelwelt, nicht mehr. Mit Vorliebe bleibt sie im Kino abstrus und sonderlich, damit sie, wie in Tom Tykwers „Der Krieger und die Kaiserin“, als Ausstattung für eine Art neue und überaus manierierte Innerlichkeit herhalten kann.
Behinderte und Durchgeknallte werden auf der Leinwand bis heute in einer zweifelhaften Mischung aus Monstershow und Verklärung bis hin zur Erhabenheit präsentiert. Das neuere europäische Autorenkino ist da immerhin differenzierter: In „Engel des Universums“ erzählt der isländische Regisseur Fridrik Thor Fridriksson von Paul, dem Trommler und Produzenten monumentaler Ölbilder. Paul sagt, er sei eine Wolke in Hosen, wird von Eidechsen verfolgt, kann über Wasser gehen und ist der festen Überzeugung, dass das Leben eine Abenteuergeschichte ist, die sich irgendein Idiot ausgedacht hat. Für das medizinische Personal ein klarer Fall von Schizophrenie.
Für „Engel des Universums“ ist es jedoch die andere Vernunft, die andere Methode, die andere Wahrnehmung und wird damit auch zum Teil jener romantischen Vision von Genie, das nur mit einer Portion Irrsinn erst so richtig Funken sprühen kann. Die Ausgrenzung solcher Zeitgenossen wird in der „nationalen Schizophrenie“ der isländischen Welt, die immerhin kein Problem damit hat, das Reich der Elfen und Trolle ernst zu nehmen, zum Paradoxon.
Noch radikaler geht es in „Uneasy Rider“ von Jean-Pierre Sinapi zu. Mit seinem ebenso bösen wie scharfsinnigen Myopathie-Patienten René rennt der Film sowohl gegen den Anstaltsapparat als auch gegen den Irrtum an, dass Menschen ohne intakte Muskeln und Nerven auch keine intakte Libido hätten. Gesund, potent, normal wird zu einer recht relativen Angelegenheit in einem Film, in dem Rollis und MS-Kranke frustrierte Arschlöcher sein dürfen, die das Pflegepersonal so lange hin und her scheuchen, bis die Pin-ups auch an der richtigen Stelle kleben. Anders herum wird ein Behinderter auch mal „Du Drecksau!“ genannt, wenn er sich wie eine Drecksau aufführt. Ein zielstrebig durchgespielter Aufruhr in Richtung Gleichberechtigung, die nicht davor zurückschreckt, eine Prostituierte in die Problemlösung mit einzubeziehen.
Auf wenn auch andere Weise ist „Uneasy Rider“ genauso konsequent und kompromisslos wie Lars von Triers „Idioten“ (1999), der die vor allem für die 70er-Jahre typische Begeisterung für den Irrsinn in einem Komunenexperiment scheitern ließ. Und damit eine ideologische Verklärung vorführte, nach der nur „Idioten“ so unkonventionell, so frei und so enthemmt sind, dass sie das Bürgertum, sein Regelwerk, seine Tabus und seine sexuelle Ökonomie gewaltig aufmischen können. Ein Konstrukt, von dem schließlich kaum mehr übrig bleibt als ein frustrierter Gruppen-Stalin und die Gewissheit, dass sich jede anarchistische „Idioten“-Romantik in der Konfrontation mit ihren realen Vorbildern an dem eigenen Zynismus verschlucken muss.
Filme wie diese nehmen eine Sonderstellung ein. Nicht nur weil sie nichts mit den üblichen Betroffenheitsfilmchen gemein haben, sondern weil sie eine Motivgeschichte fortsetzen und zugleich kritisch inspizieren, die so alt ist wie das Kino selbst. Eine Geschichte, die je nach „Defekt“ das Leib-Seele-Problem auf mythische Halbwesen verteilt und bis heute zwischen Okkultismus und Aufklärung pendelt. Ihren Anfang nahm sie bereits um 1885.
Als der einfahrende Zug der Brüder Lumière das Publikum der allerersten Filmpremiere in Panik versetzte, sorgte in Wien Freuds „Entwurf einer Psychologie“ für den anderen Schock. Das Ich war nicht länger Herr im Gedankenzimmer. Es wurde zur Bastelei des Imaginären enttrohnt und taugte nicht länger als verlässliche, autonome Urteilsinstanz. So gesehen produzierte das Kino seine Bilder und Archetypen direkt parallel zur anderen, neu entdeckten Traummaschine, der Psyche.
Damit brach es ebenso rasant zum Mond wie zum Mikrokosmos der Seele auf. Es ribbelte an den Trennungslinien zwischen Innen und Außen, tobte sich in unmöglichen Gleichzeitigkeiten aus und montierte nach Belieben Raum und Zeit. Traumata wurden im Film als magische Zwischenreiche bestaunt, Identitätsspaltungen und Wahrnehmungsstörungen als dramatisches Potenzial ausgebeutet. Das Spiel mit der Aura des Autistischen, Psychotischen oder Schizoiden zählt seit jeher zum festen Repertoire.
Triebtäter, Somnambule, Klaustrophobiker und Neurotiker bevölkerten spätestens seit „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1919) von Robert Wiene regelmäßig die Leinwand, wurden seit „Das Geheimnis einer Seele“ (1925) von G. W. Papst zu Schauobjekten populärwissenschaftlicher Studien. Mit gleicher Faszination bestaunte und beglotzte das Medium auch alle Arten an körperlichen Behinderungen und Missbildungen. Sein Voyeurismus richtete sich auf die Freaks, die (wie die ersten Lichtspiele) auf den Jahrmärkten zur Besichtigung freigegeben waren. Exponate, die ebenso für die Projektionen der Angst wie für die des Mitleids herhalten mussten.
Eine Doppelposition, die im Abstand eines halben Jahrhunderts „Freaks“ (1932) von Tod Browning und David Lynchs „Elefantenmensch“ (1980) klug reflektieren, nicht ohne gleichzeitig zu einer humanistischen Rehabilitation aufzufordern. Wird in der Zirkuswelt der „Freaks“ das Normale, Gesunde und Schöne in Gestalt der eiskalten Trapezkünstlerin Cleopatra zum eigentlich Monströsen (weswegen der Film unter anderem in Großbritannien jahrelang auf dem Index stand), schickt Lynch seine „Ungestalt“ als Opfer wie als Erlöser über die Schaubuden hinaus in eine Welt, die weitaus kränker ist als er.
Von den „Monsterpräsentationen“ der Kirmes landete der „mangelhafte“ Körper schnell in den Anfängen des Horrorfilms. Und das nicht nur als mordende, buckelige Nachtgestalt. Hier sind es mit zunehmender Tricktechnik vor allem Zerstückelungen, mit denen das Genre seine Überbetonung des Körperlichen, vor allem des „anormalen“, feiert: die Hand, die auch ohne den Rest würgen kann; die bloßen Augen als Überwachungsapparat; das Gehirn als reine Wissensmasse oder böser Manipulator anderer Oberstübchen. Der Leib-Seele-Verbund ist längst gesprengt. Der Organismus mag sterben, damit seine kranken, kriminellen Einzelteile weiterleben, zur Not neu mit anderen zusammengeflickt werden und über das Ganze triumphieren können. Jedenfalls bis zu ihrer Vernichtung durch einen guten und vor allem ganzen Kerl.
In den Filmen mit körperlich Behinderten verkehrt sich der Aufstand der Teile gern in eine Kapitulation vor dem vermeintlich Kompletten und Gesunden. Das Bein, das nicht laufen kann, das Auge, das nicht sieht, wird vom gesunden Gegenüber kompensiert. Zur Not umarmt und absorbiert die Masse der Vollständigen all die Blinden, Lahmen und Tauben, wenn sie ihre Fehlfunktionen nur ja anderweitig überwunden haben. Durch besondere Leidensgeschichten, etwa durch extreme Schmerzbereitschaft oder indem sie die Welt so oft retten, dass es ihr eigentlich besser gehen müsste. Ihre Behinderung ist ebenso Strafe wie Mission – von „Warte bis es dunkel wird“, „Gottes vergessene Kinder“, „Mein linker Fuß“ bis zu „Flawless“, in dem ein Schlaganfall aus Robert De Niros unermüdlichem Schwulengeschimpfe die Luft rauslässt und er fortan unter den Augen seiner tuntigen Nachbarschaft nicht mehr zustande bringt als ein obszönes Ventilgeräusch mit Spuckeregen. Wer nicht hören will, muss fühlen.
Gerade Hollywood verharrt in der Inszenierung seiner Halbwesen immer noch zwischen Aufklärung und simpler Didaktik, Okkultismus und Verklärung. Und produziert am liebsten Filme, die ihre Rain Men als geheimnisvolle Erscheinungen in einer verschlüsselten Welt begreifen. Mit ihnen soll das Wunderbare in die Realität einbrechen. Ein Job für Geschöpfe wie den debilen „Forrest Gump“, den Robert Zemeckis Mitte der 90er durch Rassenunruhen, Kubakrise, Kennedy-Ermordung, Vietnam, Mondlandung und Watergate schickte. Forrest Gump, der Kriegsheld, dem zu Vietnam nicht mehr einfällt als: „Das Gute an Vietnam war, dass man immer etwas zu tun hatte.“ Der Film macht einen zweifelhaften Kniefall vor einem unterbemittelten Protagonisten, der ohne jedes politische Bewusstsein zum Nationalhelden wird. Und zum seligen Beispiel dafür, dass Amerika sein individuelles Glücksversprechen irgendwann einhält. Wenn man nur „immer etwas zu tun hat“.
Wird aus den ewigen, aber guten Infantilen und „Zurückgebliebenen“ ein Böses, entwickelt sich die okkulte Angelegenheit zum Nährboden zahlloser gestörter Serienmörder. Dann greifen die Ungezogenen, Durchgeknallten und Deformierten, die nach Weltkrieg und Vietnam eben nicht „immer etwas zu tun haben“, zur Kettensäge und lassen das Land wie in den B-Movie-Splattern der 70er zu einem Schattenreich der Zombies und Amokläufer werden. Damit gewinnt man selbstverständlich keinen Blumentopf und schon gar keine Oscars. Preise und Nominierungen hagelt es sowieso nur in der „lieben“ Abteilung für Autisten, psychiatrisch internierte Freiheitskämpfer, gerne auch für Blinde, Sprachgestörte und Gehbehinderte.
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