Die Bratze!

■ Harry Rowohlt hat in Bremen den Rekord im Dauersitzen gebrochen: Er hielt eine Mammutlesung und -abrechnung

Es gibt so Menschen, deren Anblick seltsame Assoziationen hervorruft. Bilder oder Wortfetzen, die einem plötzlich ins Gehirn schießen, ohne Erklärung. Ein wahres Mekka für unbeabsichtigte Gedanken ist Harry Rowohlt. Harry, der Kolumnist. Harry, der Übersetzer. Harry, der Penner aus der Lindenstraße. Da schießen die Adjektive: knorrig, brummelig, knarzig, trocken, ironisch. Irgendwie antik, zumindest macht der Rauschebart den Eindruck. Am treffendsten umschreiben lässt sich Harry Rowohlt aber mit seinem eigenen Lieblingswort: bratzig.

Am Mittwochabend im Schlachthof besaß der Kult-Kolumnist die wundersame Fähigkeit, sich wie ein Tintenfisch an seinem Lesetischchen festzusaugen, in eine dicke Qualmwolke einzurauchen und sich über vier Stunden nicht einen einzigen Millimeter von der Stelle zu bewegen. Wie ein rauchiges Urgestein saß er da und erzählte und wetterte und schnodderte ab und an kräftig in sein Taschentuch. Das Publikum in der vollbesetzten Kesselhalle versuchte schon nach der zweiten Stunde systematisch rutschend die rechte und linke Hinterbacke und dann das Rückgrat zu entlasten. Aber Harry Rowohlt saß.

Eine Lesung im konventionellen Sinn war es nicht. Eher die Lebensgeschichte eines satirischen und dabei sehr erfolgreichen Künstlers, gespickt mit ironischen Seitenhieben auf müde belächelte Kollegen, Mitbürger aus den „Beitrittsländern“ und „alten Schnatzen“, die es in einem Anflug von Unwissenheit irgendwann einmal gewagt haben, ihn um eine Auskunft zu bitten. Und auf die Schwaben, die blöden Bratzen, die bei Rowohlt jedes Mal aufs Neue Krämpfe im Skrotum – der Duden nennt es auch Hodensack – hervorrufen.

Zwischenzeitlich las er auch kurze Textpassagen aus dem von ihm übersetzten Bestseller „Die Asche meiner Mutter“ oder seinen eigenen Kolumnen. Doch das war eher Nebensache. Trotzdem schaffte es der Meister des komplizierten Satzbaus, dass die Zuhörer über die billigsten Türkenwitze lachten, über nadelnde Tannenbäume und über sich selbst. Das Lachen kam dabei aus tiefstem Herzen.

Ja, es gab wohl keinen an diesem Abend, an dem Rowohlt ein gutes Haar gelassen, keinen im Publikum, der sich nicht den Hintern schmerzhaft breitgesessen, keinen, der den Griesgram nicht lieb gewonnen hat. Und keinen, der sich in den satirischen Anekdoten nicht wiedergefunden hat. spo