Für einen Politiker ist Optimismus Pflicht, hat Bremens Finanzsenator Hartmut Perschau (CDU) einmal gesagt. Für Wirtschaftsexperten ist die Wahrheitsliebe Pflicht.
Bremen braucht mehr Wirtschaftswachstum, mehr Einwohner, mehr Steuereinnahmen – das waren die Ziele 1993, als das Sanierungsprogramm verkündet wurde. Gegenüber dem „Weser Report“ hat der für die Staatsfinanzen verantwortliche Staatsrat Günter Dannemann es Anfang April 2001offen auf den Punkt gebracht. „Die Haushaltssanierung gilt Kritikern als gescheitert, weil am Ende der Sanierung die Schuldenlast höher sein wird als zum Beginn“, sagte der Interviewer. Dannemann antwortete: „Das ist richtig.“ und dann erklärte er, ohne die 17,7 Milliarden Mark Sanierungshilfe lägen die Staatsschulden aber noch höher.
Der Wirtschaftsexperte der Arbeitnehmerkammer, Hans Jürgen Kröger, hat sich die Erfolgs-meldungen zum Sanierungsprogramm einmal vorgenommen und mit den Zahlen des Statistischen Landesamtes verglichen.
: Wie „spitze“ Bremen ist

■ Der Bremer Senat macht mit Luftbuchungen aus negativer Sanierungsbilanz eine Erfolgsstory. Wie die Bürgerschaftswahl in Bremen einen Konjunktur-„Aufschwung“ auslöste  ■ Von Hans Jürgen Kröger

„Den Aufschwung wählen“, so lockten 1995 Wahlkampfplakate der CDU. Die Botschaft war klar: Nur wer „richtig“ wählt, wird mit dem Aufschwung belohnt. Kaum waren CDU-Politiker als Finanz- und Wirtschaftssenatoren im Amt, meldeten sie den ersten Erfolg. Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent. Das von Wirtschaftssenator Hartmut Perschau verkündete Wirtschaftswachstum für 1995 war aber nur „vorläufig“. In der Endabrechnung des Statistischen Landesamtes wurde die Wachstumsrate von 1,4 Prozent auf 0,1 Prozent korrigiert. Bremen fiel in der Hitliste der westdeutschen Bundesländer auf den vorletzten Platz. Damit hatte die große Koalition ihr Sanierungsziel, ein höheres Wirtschaftswachstum als in Westdeutschland zu erreichen, verfehlt.

„Trau' keiner Statistik ...“

Im zweiten großkoalitionären Sanierungsjahr 1996 ereilte Bremen ein ähnliches Schicksal (aus plus 0,8 Prozent wurde minus 0,6 Prozent). Aber aller Anfang ist schwer, wusste der damalige Bremer SPD-Fraktionsvorsitzende Christian Weber schon 1996, denn „die Hälfte der Wirtschaftspolitik ist Psychologie ... es muss eine Art Aufbruchstimmung da sein.“ Im gleichen Jahr beklagte der Bremer Wirtschaftssenator, dass „es noch nicht gelungen ist, die entscheidende Bedeutung des wirtschaftlichen Aufschwungs für die Zukunft des Landes der Öffentlichkeit in ausreichendem Maße bewusst zu machen und Verständnis dafür zu gewinnen.“ Kein Wunder, dass er postwendend beim Weser Kurier protestierte, als dieser Bremen mit der niedrigsten Wachstumsrate aller westdeutschen Länder seit 1970 zitierte. Frei nach dem Motto „trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, zerlegte der Wirtschaftssenator den Gesamtzeitraum so geschickt in zwei Teile – bis Bremen wieder Bundesdurchschnitt war.

Ein Kreuz für den Boom

Diese und ähnliche Taschenspielertricks sollten die negative Sanierungsbilanz verschleiern. Nach seiner Intervention sprang der Zweckoptimismus auf die größte Bremer Tageszeitung über. Die Marketingstrategie aus dem Rathaus ging auf und fortan bestimmten optimistische Nachrichten mehr und mehr die Schlagzeilen der Regional- und Wirtschaftspresse. Unter der Überschrift „In Bremen darf gejubelt werden“ verriet ein Bremer Spitzen-Banker dem Weser Kurier, dass sich „die Stimmung in der Wirtschaft mit der großen Koalition verbessert habe, die Unternehmer sähen wieder Perspektiven. Und dies führe zu mehr Investitionen, bringe damit den wirtschaftlichen Aufschwung in Gang – jetzt auch in Bremen. Ein berechtigter Grund für Jubel.“ So einfach klingt Wirtschaftspolitik, wenn CDU und Wirtschaft an einem Strang ziehen. Früher wurden höhere Umsätze, niedrigere Kosten und bessere Gewinne angemahnt, heute soll das richtige Kreuz auf dem Stimmzettel einen Wirtschaftsboom auslösen. Der Bremer Finanzsenator Hartmut Perschau 1999: „Mitte 1995 haben wir Regierungsverantwortung an der Weser übernommen. Seither geht es wieder aufwärts. So einfach lautet meine Bilanz nach vier Jahren CDU.“ Nach seiner Meinung entscheidet der Wähler, „ob der Aufschwung fortgesetzt werden oder ob es bergab gehen soll.“ Die Handelskammer Bremen sprach 1999 erstmalig eine Empfehlung zur Bürgerschaftswahl aus – zugunsten der großen Koalition, weil „das Wahlergebnis einen entscheidenden Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung unseres Bundeslandes hat.“ Wenige Tage vor der Bürgerschaftswahl prophezeite die Handelskammer in ihrer Frühjahrs-Konjunkturumfrage ein Wirtschaftswunder: Während sich bundesweit Pessimismus breit machte, sorgte allein in Bremen als einzigem Bundesland die „optimistische Grundstimmung“ für ein angenehmes Konjunkturklima. Nach der Bürgerschaftswahl zerplatzte die Jubelmeldung wie eine Seifenblase. Im Bundesvergleich-West (1,6 Prozent) erreichte Bremen allerdings in Wahrheit mit 0,6 Prozent ein weit unterdurchschnittliches Wachstum.

Die Kunst des Umrubelns

Bürgermeister Henning Scherf und Wirtschaftssenator Josef Hattig konnten die schlechten Wirtschaftsdaten für 1999 nicht glauben und zweifelten die Zahlen des Statistisches Landesamtes an. Die „dynamische Entwicklung fand bisher noch nicht Eingang in die ersten Berechnungen zum Wirtschaftswachstum“, gaukelte Wirtschaftssenator Hattig dem verdutzten Bürger vor. Wenn nach Aussagen von Bürgermeister Scherf die Deutsche Bank, Commerzbank, Dresdner Bank und die Landesbank in Bremen bundesweit die „besten Ergebnisse“ erwirtschaften, die Bremer Lagerhausgesellschaft eine „explosionsartige Entwicklung“ genommen hat und „sich das bei den Statistiken 1999 nicht gleichermaßen abgebildet hat wie bei den Unternehmen, so muss das statistische Gründe haben.“ In den Senatspressemitteilungen wird deshalb keine Möglichkeit ausgelassen, Niederlagen in Erfolge umzurubeln. Weil das Wirtschaftswachstum in Bremen zum Beispiel im ersten Halbjahr 2000 mit 2,7 Prozent nicht stärker als das in Westdeutschland gestiegen ist, zog der Senat den Vergleich zu der niedrigeren gesamtdeutschen Wachstumsrate von 3,3 Prozent. Aber auch da lag Bremen noch unter Bundesdurchschnitt.

Die Starken zählen nicht

Kurzerhand rechnete der Wirtschaftssenator noch die beiden wachstumsstärksten Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg heraus, und schon lag Bremen nach dieser Bilanzfrisur im runtergerechneten „Bundesdurchschnitt“ von 2,7 Prozent. Jetzt stimmten die Zahlen wieder mit der optimistischen Meinung des Wirtschaftssenators überein: „Die Wirtschaft in Bremen hat sich erneut positiv entwickelt. Damit bestätigt sich die Prognose.“ Für das Jahr 2000 wurde der gleiche Trick noch einmal angewendet. Weil der Senat Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze erneut mit dem niedrigeren Bundesdurchschnitt verglich, bestätigte der Finanzsenator wiederum einen Erfolg.

Das Sanierungsprogamm hatte allerdings zum Ziel gehabt, dass Bremen seinen Rückstand aufhole und also bei Wirtschafts- und Arbeitsplatzwachstum über dem Bundesdurchschnitt (West) liege. Auch in Jahre 2000 hat Bremen bei dem Kennzahlenvergleich schlechter abgeschnitten als Westdeutschland. Fazit: Auch 2000 wurde entgegen den Senatspresseverlautbarungen das Sanierungsziel verfehlt.

Immun gegen Kritik

Wenn sich das Wachstum nicht weiter schönrechnen lässt, werden „Basiseffekte“ oder die „exportabhänige Bremer Wirtschaft“ beschworen, oder man entdeckt Bremen als „kleine Region“, in der „Wachstumsschwankungen ausgeprägter“ als anderswo sind. Helfen auch diese Erklärungen nicht über negative Entwicklungen hinweg, behauptet der Senat, dass sich die „Sanierungseffekte erst mittelfristig voll entfalten können“. Damit hat er sich auf längere Zeit gegen seine Kritiker immunisiert. Sollten sich auch mittelfristig keine Erfolge einstellen, so ist das für die Senatoren von heute kein Problem, sie dürften dann nicht mehr im Amt sein. Da ist doch viel ehrlicher, was Angelina Sörgel vom Beraterstab des Bürgermeisters Scherf 1999 zum Sanierungsprogramm offenbarte: „Im Prinzip stimmt die Marschrichtung, aber es gibt keinen Erfolg.“

Ein Gesellenstück lieferte kürzlich das BAW-Institut für Wirtschaftsforschung, das „forschungs-gestützte“ Politikberatung für den Bremer Senats betreibt. Mit dem nicht originellen, aber allseits angewandten Kniff, Bremen mit Gesamtdeutschland zu vergleichen, bescherte das Institut Bremen ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum im Jahre 2000 (3,3 Prozent gegenüber 3,1 Prozent im Bund), das „die vorjährige Schwächephase (0,6 Prozent gegenüber 1,6 Prozent im Bund) kompensiert.“ Ein Künstler, wer so rechnen kann: Wie soll ein Prozent Wachstumsdefizit aus 1999 durch 0,2 Prozent Wachstumsgewinn aus 2000 kompensiert, also „gegeneinander ausgeglichen“ (Dudendefinition für kompensieren) werden? Der Rückstand von minus 0,8 Prozentpunkten bleibt.

Wo ist er denn, der Vorsprung?

Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass Bremen im Jahre 2000 eigentlich die Wachstumsraten der Bundesländer-West nicht übertroffen hat. Um auch über einen längeren Zeitraum eine „positive“ Bilanz ziehen zu können, musste das BAW einen anderen Trick anwenden. Als Basisjahr für den Vergleich wurde das Jahr 1996 mit dem niedrigsten realen Bremer Bruttoinlandsprodukt seit Sanierungsbeginn ausgewählt. In diesem Jahr lag das Inlandsprodukt sogar noch unter dem Stand von 1991. Damit hat das BAW die im Sanierungszeitraum 1995 und 1996 registrierten niedrigsten Wachstumsraten von 0,1 und minus 0,6 Prozent einfach ausgelöscht. Nach dieser „Bereinigung“ der Statistik konnte das BAW gegenüber den alten Bundesländern (einschließlich Berlin-Ost) einen Wachstumsvorsprung von 0,1 Prozentpunkten nach der vorläufigen Berechnung des Statistischen Landesamtes ausmachen. Wenige Wochen später ist dieser vorschnell verkündete „Anschluss an das bundesweite Wirtschaftswachstum“ bei der zweiten Überarbeitung (Fortschreibung mit aktualisierten Zahlen) der Wachstumszahlen des Statistischen Landesamtes gekappt worden: Das Wirtschaftswachstum in Bremen ist 2000 nur im Durchschnitt der alten Länder gestiegen. Ohne Groß-Berlin mit seiner ökonomischen Sonderentwicklung liegt Bremen mit minus 0,1 Prozentpunkten unter dem Bundesdurchschnitt-West.

„Schlicht im Denken“

Das Gefährliche an dieser Situation ist der wachsende Realitätsverlust der Politiker und Verbandsfunktionäre der Unternehmer, die Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten. Der Senat schwebt über den Wolken, wenn er Bremen als „Konzern“ betrachtet und auf dem Weltmarkt einen „Global-Player“ spielen will. Früher wurde Bremen wegen seiner Bedeutungslosigkeit (Bremen hält einen Anteil von 1,1 Prozent am deutsche Bruttoinlandsprodukt) von dem damaligen SPD-Landesvorsitzenden Konrad Kunick als „Fliegenschiss-Staat“ bezeichnet.

Auch der Bundeskanzler muss inzwischen Wind davon bekommen haben, dass sich Bremen vom „Dorf mit Straßenbahn“ zu einem potemkinschen Dorf entwickelt hat. Auf dem Neujahrsempfang des Bremer Senats im Januar 1999 zeigte er sich angesichts nicht abreißender „Erfolgs“-meldungen so verblüfft, dass er entzückt ausrief: „Wenn Bremen über spitze ist, wozu braucht ihr denn unsere Kohle eigentlich?“

Aber so einen Finanzier darf man natürlich nicht vergrätzen. Ganz anders kann man mit den Kritikern im eigenen Land umspringen, die im Gegensatz zum Kanzler keine Sanierungsmilliarden geben und Geld für „unrentable“ Ressorts wie Bildung, Kultur und Soziales fordern. Wenn sie es wagen, Zweckoptimismus, Luftbuchungen oder Sanierungsbilanzen zu entschleiern, wird ihnen vorgeworfen, „Nörgler“ zu sein, „statistische Probleme“ zu haben, Statistiken „falsch zu lesen“, „schlicht im Denken“ zu sein, „Sanierungserfolge zu zerreden“ oder „eine permanente Standortschädigung“ zu betreiben. Dabei messen die Kritiker die Sanierungsziele doch nur an den Zahlen des Statistischen Landesamtes.

Ziel bisher völlig verfehlt

Nur wenn Bremen im Vergleich zu Westdeutschland überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze schafft und die Wohnbevölkerung erheblich zunimmt, kann nach Senatsmeinung die Konsolidierung der Bremer Haushalte erreicht werden. Sechs Jahre nach Sanierungsbeginn ist es nicht gelungen, sich an den Bundestrend anzukoppeln. Im Gegenteil, die Sanierungszahlen belegen eine deutliche Verschlechterung. Das Sanierungsziel ist entgegen allen Versprechungen und Prognosen bisher völlig verfehlt worden. Im Jahresdurchschnitt der letzten sechs Sanierungsjahre (1995 bis 2000) sind das Wirtschaftswachstum um minus 0,5 Prozentpunkte, die Zahl der Arbeitsplätze um minus 1,2 Prozentpunkte und die der Einwohner um minus 0,8 Prozentpunkte hinter den alten Bundesländern zurückgeblieben. Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzentwicklung haben nur im Jahr 1997 den Bundesdurchschnitt (West) übertroffen. Die Zahl der Einwohner, die im Sanierungskonzept eine wichtige Bedeutung hat, sank von 1994 bis 2000 jedes Jahr, insgesamt um 20.000. Nach der Bevölkerungsprognose des Statistischen Landesamtes wird die Einwohnerzahl bis 2004 nochmals um 14.900 zurückgehen.

Fazit der unfrisierten Zwischenbilanz: Statt sich an die Entwicklung anzukoppeln, ist Bremen nach sechs Sanierungsjahren weiter von den alten Bundesländern entfernt als vor Beginn der Sanierung. Trotzdem behaupten Senat und Handelskammer, dass es „weiter“ bergauf gehe und „Bremen auch zukünftig über dem Durchschnitt liegen wird.“ Die Schulden jedenfalls, so hat der Finanzsenator ausgerechnet, werden bis 2005 auf 19 Milliarden Mark ansteigen, zwei Milliarden Mark mehr als vor Beginn der Sanierung (und die Schattenhaushalte nicht eingerechnet). Bürgermeister Scherf hat das Träumen noch immer nicht aufgegeben. Er will Bremen bis zum Jahr 2010 im Länderfinanzausgleich vom Nehmer- zum Geberland machen.