SCHRÖDERS VORSCHLÄGE ZUR EU-REFORM GEHEN NICHT WEIT GENUG
: Visionen für die ferne Zukunft

Wer hätte das für möglich gehalten: Bundeskanzler Schröder stellt sich mit wenigen, aber konkreten Vorschlägen zur Zukunft der EU an die Spitze der europapolitischen Debatte und lässt Joschka Fischer damit weit hinter sich. Hatte der Außenminister vor einem Jahr seine Europavisionen nur als Privatmann vorgetragen, übernimmt Schröder diese nun weitgehend und schreibt sie im Leitantrag zum Europaparteitag der SPD fest. All das, was das Europaparlament sich schon immer gewünscht hat und sogar noch ein bisschen mehr, könnte nun auf einmal wahr werden: die volle Budgethoheit für das Parlament, die Umwandlung des bisherigen Machtzentrums, des Ministerrats, in ein dem Bundesrat vergleichbares Gremium und schließlich eine europäische Regierung, die aus der Kommission entstehen soll. Kein Wunder also, dass CDU-Europaabgeordnete, aber auch die Grünen sich bemühen müssen, ihre Begeisterung nicht allzu laut werden zu lassen.

Ein visionäres Projekt also? Zunächst einmal bleibt abzuwarten, wie Großbritannien und die skandinavischen Staaten auf Schröders Vorschläge reagieren. Dort hat man die deutsch-französische Europadebatte eher mit Skepsis verfolgt. Wirtschaftsunion ja, eine Vertiefung der politischen Union nein, so das Credo. Vollkommen falsch wäre zudem die von Schröder vorgeschlagene Rückverlagerung der Strukturpolitik auf die nationale Ebene – schließlich ist die Angleichung der Lebensstandards in Europa eine der vorrangigsten Aufgaben Brüssels. Hier kommt der Kanzler den Forderungen der Bundesländer entgegen, die in den anstehenden Debatten über die Verfassung der EU vor allem ihren Einfluss vergrößert sehen wollen.

Und schließlich das Entscheidende: Die Fraktionen des Bundestags und natürlich erst recht das Europaparlament sind überzeugt, dass die EU-Verfassung von einem Konvent, besetzt mit Parlamentarieren und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen ausgearbeitet werden soll – und nicht von den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Im Kanzleramt scheint es jedoch einigen Bedenkenträgern schwer zu fallen, auf ihren Einfluss zu verzichten: Auf eine klare Zustimmung Schröders zum Konvent wartet man im Bundestag seit Monaten vergebens. Nur: Warum will Schröder nach 2004 die Macht in Europa vom Ministerrat an Kommission und Parlament übertragen, sie bis dahin aber nicht aus den Hand geben? Vielleicht, weil der Kanzler weiß, dass seine Visionen erst in ferner Zukunft durchsetzbar sein werden, der Verfassungsprozess jedoch unmittelbar bevorsteht und mitten in seinen Wahlkampf fällt. Soll die EU wirklich demokratischer werden, muss Schröder sich jetzt für den Konvent aussprechen. SABINE HERRE