Literweise Herzblut verschütten

Schüchterne Dämonen, die nicht lächeln, und die Suche nach dem traurigsten Song der Welt: Kristin Hersh und Raz Ohara im Schlachthof  ■ Von Barbara Schulz

Endlich ist Sommer. Die noch auf Halde liegenden Frühlingsgefühle tauen unsere Herzen auf, und Menschen in den Straßen lächeln sich sogar an, wenn sie nicht gerade in die Displays ihrer Handys starren und dabei gegen Lampensäulen rennen. Da gibt es aber zwei Menschen, die die sonnige Seite des Lebens weniger interessiert, und die dem Veranstalter des Konzerts wie ein Traumpaar vorkommen müssen: Kristin Hersh, Ex-Sängerin der Throwing Muses und nun mit ihrem fünften Solo-Album Sunny Border Blue unterwegs, trifft auf Raz Ohara, DEN Songwriter aus dem Berliner Kitty Yo-Stall.

Was die beiden gemeinsam haben? Nun, erstmal eine Vorliebe für eher reduzierte Gitarren-Songs: Obwohl Raz Oharas erste Platte Realtime Voyeur voll plu-ckernder Geräusche und programmierter Beats steckte, und er erstmal den Stempel „Der neue Prince, hurra!“ aufgedrückt bekam, hat er sich inzwischen auf die Gitarre besonnen, Kristin Hersh dagegen hat auf ihrem neuen Album ein paar moderne Beats eingeflochten. Und eine Vorliebe für ein gewisses Maß an Melancholie: Es scheint fast so, als wären beide auf der endlosen Suche nach dem traurigsten Song der Welt und als hätten sie sich geschworen, solange Songs zu schreiben, bis sie ihn gefunden haben.

Eine weitere Gemeinsamkeit: Beide sind extrem zurückhaltende Menschen, die schüchtern und verloren auf den Bühnen dieser Welt herumstehen und dem Publikum ihr Herzblut literweise entgegenschütten, ohne auch nur hinzusehen. Raz Ohara verhüllt dabei sein Gesicht hinter riesigen Sonnenbrillen, flüstert mehr, als dass er singt, bricht Songs nach Lust und Laune ab und lächelt so gut wie nie; Kris-tin Hersh versteckt sich hinter ihrer Gitarre, starrt mit großen Augen an die Decke und lässt die Menschen mittels ihrer brüchig-kratzigen Stimme an den Dämonen ihrer Seele teilhaben. Und davon gibt es bei ihr gleich ein paar mehr.

Früher litt sie an Schizophrenie (sie hörte Stimmen im Kopf), bekämpfte erfolgreich einen Gehirntumor und kämpft noch heute mit einer Hyperaktivität namens „Bipolar Disorder“, einer Krankheit, unter der offensichtlich extrem kreative Menschen leiden, zum Beispiel auch Brian Wilson und Francis Ford Coppola. Inzwischen ist sie glücklich verheiratet, Mutter dreier Kinder und lässt auch diese Erfahrungen in ihre Texte einfließen, obwohl ihre Lieder zumeist Namen wie „Trouble“ oder „White Suckers“ tragen. Eine Mutter im Rock'n'Roll? Das ist heutzutage wahrlich nicht mehr originell (man denke an Courtney Love, Liz Phair, Björk, Sonic Youths Kim Gordon und andere), bewegt aber einige männliche Musikschreiber noch immer dazu, sich zu fragen, wie solche Frauen denn alles unter einen Hut bekommen.

Oder man(n) fabuliert darüber, dass Frau Hersh ja nun ein Teil der nicht aufzuhaltenden Welle des „modern alternative rock“ sei, wo „auch Frauen selbstverständlich die Frontpositionen einnehmen“. Wer will Frauen denn aufhalten? Und wieso Frontfrau (Krieg-Spraak, ick hör dir trappsen) Wäre interessant, zu erfahren, was Kris-tin Hersh zu solchen Sätzen sagen würde.

Raz Ohara jedenfalls bleibt von sowas unbehelligt. Er redet lieber darüber, wie er mit Songschreiben den Tod seines Vaters zu verarbeiten versucht und dass er noch nie „richtig“ verliebt gewesen sei. Mit Rock 'n' Roll-Leben hat er wenig am Hut. Stattdessen konzentriert er sich auf seine Songs, covert auf seinem aktuellen Werk The Last Legend ganz entspannt mal kurz eines der großartigsten Stücke der ersten Platte („Paid Voyeur“) und singt sonst lieber über liberianische Mädchen, Illusionen und – schöne Tage. Huch!? Gut zu wissen, dass es die auch gibt im Leben des Herrn Ohara.

Montag, 21 Uhr, Schlachthof