Die Hinterzimmer schließen!

Außenminister Fischer fordert sie, Kanzler Schröder auch: die europäische Verfassung. Richtig so – aber sie darf nicht einfach auf einem Regierungsgipfel ausgekungelt werden

Der Konvent darf nicht durch mehr oder weniger heimliche Steuerungsgremien gegängelt werden

Die Debatte um die europäische Verfassung ist entbrannt: Außenminister Fischer brachte den Stein vor einem Jahr ins Rollen, Bundespräsident Rau und Bundeskanzler Schröder haben ihm jüngst neuen Schwung verliehen. Spätestens mit dem Beschluss von Nizza, von den europäischen Staats- und Regierungschefs im Dezember 2000 gefasst, ist klar, dass die EU die Zuständigkeiten innerhalb Europas neu regeln wird. Darüber hinaus soll der rechtliche Status der EU-Grundrechtscharta, in Nizza feierlich verkündet, festgelegt werden. Für ein Dokument aber, das Grundrechte und Kompetenzregelungen enthält, gibt es einen Namen: Verfassung. Ihre Erarbeitung soll bis 2004 abgeschlossen sein. Ein ambitioniertes Projekt. So weit herrscht Einigkeit bei allen Beteiligten, auch wenn ihre inhaltlichen Vorstellungen auseinander gehen.

Uneinigkeit herrscht aber darüber, wer diese Verfassung erarbeiten soll. Viele Modelle sind denkbar: So könnten nach der „klassischen“ Methode die Regierungen auf einer Konferenz über die Inhalte streiten. Vorstellbar wäre auch ein „Rat der Weisen“, der den Regierungen Vorschläge unterbreitet. Beide Methoden haben ihre Vorteile, weisen aber auch eklatante Mängel auf: Sie sind weder transparent noch sonderlich effizient. Wie ineffektiv Regierungskonferenzen sein können, führte erst kürzlich Nizza vor: Obwohl die Staatschefs zwei Tage länger blieben als geplant, fiel das Ergebnis mager aus und hinterließ alle unzufrieden. Vor allem aber sind die dort gefassten Beschlüsse wenig durchsichtig. Der Entstehungsprozess ist für die Legitimität der Verfassung aber ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Daher muss die Verfassung demokratisch und parlamentarisch erarbeitet werden. Ein solcher Entwurf würde dann auch politisch über das notwendige Gewicht verfügen, um nicht wie viele andere vorher in der Schublade zu verstauben.

Das europäische Projekt ist zu wichtig, als dass es nur von einigen wenigen gesteuert werden darf, die in Hinterzimmern kaum nachzuvollziehende Kompromisse schließen. Die Debatte um die europäische Verfassung muss inmitten der Gesellschaft geführt werden – in Schulen und Universitäten, bei öffentlichen Veranstaltungen, in Vereinen und Verbänden, in den Gewerkschaften und den Medien.

Die Arbeiten an der Grundrechtscharta haben gezeigt, dass ein Konvent diese hohen Anforderungen weitgehend erfüllen kann. So saßen im letzten Jahr 62 Frauen und Männer im Brüsseler Grundrechtskonvent, die in nur neun Monaten die Charta erarbeiteten. Das zum Stichwort Effizienz. Alle Sitzungen in Brüssel waren öffentlich; nationale und europäische Anhörungen wurden durchgeführt; und alle Beratungsvorlagen konnten im Internet nachgelesen werden. Man vergleiche diese transparente Vorgehensweise mit den bekannten Regierungskonferenzen, die hinter verschlossenen Türen tagen und deren Ergebnisse selbst Experten kaum vorhersehen können. Vor allem durch die Zusammensetzung des Konvents, der zu fast drei Vierteln aus nationalen und europäischen Parlamentariern bestand – und eben nicht mehrheitlich aus Beamten –, wurde auch die Diskussion inmitten der Gesellschaft verankert und geführt. Zeugnis darüber geben hunderte von Eingaben, die an den Konvent und an einzelne Delegierte gerichtet wurden.

Aufgrund dieser Erfolgsgeschichte muss auch die europäische Verfassung von einem Konvent erarbeitet werden, wie erst kürzlich auch von Bundespräsident Johannes Rau gefordert. Die Staats- und Regierungschefs wären gut beraten, wenn sie auf dem europäischen Gipfel in Göteborg im Juni sich auf das Konventmodell einigen könnten, bevor dann im Dezember im belgischen Laaken ein konkreter Arbeitsauftrag an das Gremium ergeht. Dabei muss allerdings selbstverständlich sein, dass der Konvent nicht gegängelt wird. Klar ist, dass die Staats- und Regierungschefs das Ergebnis des Konvents abschließend auf einem europäischen Gipfel beraten müssen. Ebenso klar sollte aber sein, dass der Konvent nicht durch mehr oder weniger heimliche Lenkungs- oder Steuerungsgremien beaufsichtigt wird, bei denen dann doch wieder die Exekutiven die Strippen ziehen. Die vollmundigen Bekenntnisse der letzten Monate zur Parlamentarisierung der Union können jetzt einem Glaubwürdigkeitstest unterworfen werden.

Verbesserungen gegenüber dem Grundrechtskonvent sind natürlich vorstellbar. Besser wäre es zum Beispiel, wenn Arbeitsgruppen Teilaspekte der Verfassung vorbereiten könnten, vor allem aber, wenn der Konvent ganze Wochen zur Verfügung hätte und nicht nur zu kurzen Treffen zusammenkäme. Erst dann bilden sich Fraktionen heraus, die in der Öffentlichkeit für ihre unterschiedlichen Vorstellungen werben können. Gleichzeitg würde so das dringend erforderliche Forum geschaffen, um die konstitutionellen Fragen öffentlich zu debattieren und dabei auch zu bestimmen, welche politische Ausrichtung das künftige Europa haben soll – zum Beispiel in der gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Deshalb braucht nicht nur der Konvent, sondern vor allem auch die Zivilgesellschaft viel Zeit, um europapolitische Vorstellungen zu formulieren und einzubringen. Insofern ist der Terminplan der Regierungschefs zu begrüßen, erst 2004 zu entscheiden. Dann könnte der Text, anders als bisher vorgesehen, rechtzeitig dem höchsten Souverän zur Abstimmung vorgelegt werden: dem europäischen Volk.

Alle sind jetzt aufgerufen, ihre Vorstellungen von Europa zu artikulieren. Wer soll wofür zuständig sein, wer kontrolliert wen? Bedarf es einer europäischen Regierung, soll es die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde geben? Dies sind nur einige der Fragen, die zu entscheiden sind. Das provoziert Streit. Dieser Streit aber lohnt, gerade weil er nicht mehr nur zwischen Regierungen geführt wird und sich an vermeintlich nationalen Interessen orientiert. Sehr viel wichtiger wird stattdessen die länderübergreifende Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern. Es wird Zeit, die Bürgernähe in Europa zu stärken. „Mehr Demokratie wagen“, das muss auch und vor allem in Europa gelten – so greifbar wie jetzt war dieses „Wagnis“ schon lange nicht mehr.

Ein Konvent sollte die europäische Verfassung erarbeiten – die Grundrechtschartaist dafür Vorbild

JÜRGEN MEYER

CHRISTIAN STERZING