: Generationswechsel nach hinten
Die größte jüdische Gemeinde der Bundesrepublik wählte ihren liberalen Vorsitzenden Andreas Nachama ab. Der neue Kopf der Berliner Gemeinde, Alexander Brenner, ist konservativ – konnte aber nur mit den Stimmen der Liberalen gewählt werden
von PHILIPP GESSLER
Es hat nichts geholfen. Am Anfang des Wahlmarathons steckte ihm eine Anhängerin charmant einen Glückskäfer aus Schokolade zu. Doch Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins, hatte kein Glück an diesem Mittwochabend – und seine eher gequältes Lächeln als Dankeschön für diese süße Geste verriet, dass er ahnte, was ihn erwartete: Der Chef der größten jüdischen Gemeinde der Bundesrepublik wurde nach vier Jahren im Amt abgewählt. „So funktioniert die Demokratie, auch in der Jüdischen Gemeinde“, sagte er.
Aber hat sie wirklich funktioniert? Nachama hatte bei den Wahlen zum Gemeindeparlament, der „Repräsentantenversammlung“, am 18. März von den etwa 12.000 Gemeindemitgliedern mit deutlichem Abstand die meisten Stimmen aller Kandidaten bekommen. Als jedoch an diesem Wahlabend die 21 Repräsentanten den fünfköpfigen Vorstand der Gemeinde auserkoren, blieb Nachama außen vor. Damit war er auch als Gemeindevorsitzender abgewählt, denn nur aus ihren Reihen bestimmen die Vorstandsmitglieder den Kopf der jüdischen Gemeinschaft. Gewählt wurde stattdessen der pensionierte Naturwissenschaftler Alexander Brenner: Einem 49-jährigen liberalen Rabbiner folgt ein konservativer Exdiplomat von 70 Jahren nach.
Ist dies ein Roll-back für die jüdische Gemeinde, gar ein Rückschlag für das liberale Judentum in ganz Deutschland? Manches deutet darauf hin, denn nur in der Hauptstadt haben die liberalen Juden mit Hilfe Nachamas und unter dem Dach der Gemeinde eine eigene Synagoge mit einem eigenen, fest angestellten liberalen Rabbiner erhalten. Brenner, der sich selbst als „nichtorthodoxer orthodoxer Jude“ bezeichnet, deutete kurz nach seiner Wahl bereits an, manche Entwicklungen des Reformjudentums erschienen ihm „fraglich“. Kein Wunder, dass ihn nicht nur liberale Gemeindemitglieder als „reaktionär“ oder kaum liebevoller als „konservativen Knochen“ bezeichnen.
Dabei war seine Wahl absurderweise nur durch die Unterstützung von liberalen Repräsentanten möglich: Als Nachama vor vier Jahren antrat, symbolisierte er einen liberalen Aufbruch und Generationswechsel in der aufblühenden Gemeinde, deren Mitgliederzahl innerhalb weniger Jahre durch den Zustrom von Tausenden russischsprachiger Juden aus Osteuropa geradezu explodierte. Doch viele seiner liberalen Anhänger fühlten sich von dem Kulturmanager, der bis zu seiner Wahl geschäftsführender Direktor der entstehenden Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ in Kreuzberg war, im Laufe der Jahre immer mehr im Stich gelassen: Sie warfen ihm vor, langsam abzuheben und unzuverlässig zu sein.
Ein Beispiel war die erneute Kandidatur Nachamas für den Vorsitz der Gemeinde: Nachdem er vor etwa einem Jahr überraschend angekündigt hatte, nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung zu stehen, entschied er sich am letztmöglichen Tag plötzlich doch dazu, wieder zu kandidieren. Die Liberalen waren verschnupft: Ihre Einheit war dahin, da sich viele anderweitig hatten festlegen müssen.
Im Wahlkampf konzentrierte sich dann alles auf den Zweikampf zwischen der eher liberalen Wahlgruppe Nachamas, „Jüdische Einheit“, und der tendenziell konservativeren Gruppe um den 48-jährigen Unternehmensberater Moische Waks. Die Wahlen selbst endeten widersprüchlich: Zwar landete Waks abgeschlagen auf Platz 14 der Kandidatenliste – von seiner Gruppe aber wurden mehr Mitglieder in die Repräsentantenversammlung gewählt. Es war zugleich eine Pattsituation, denn keine der Gruppen hatte die Mehrheit im Gemeindeparlament. In dieser Situation gelang es der Waks-Gruppe, den unabhängigen Repräsentanten Brenner zu gewinnen, der beim Wahlvolk kaum weniger Stimmen bekommen hatte als Nachama – und das ohne aufwendige Wahlwerbung. Mit Hilfe Brenners konnten die Waks-Leute drei unabhängige Repräsentanten auf ihre Seite ziehen. Die Mehrheit für eine Abwahl Nachamas war da, ja seine Gruppe erhielt nicht einen einzigen Vorstandsposten.
Dafür sind die Russen nun deutlicher in der Leitungsgremien vertreten – schon jetzt machen sie mehr als zwei Drittel der Mitglieder der Gemeinde aus. Brenner kam bei ihnen gut an, da er fließend Russisch spricht. Bei seiner Rede unmittelbar nach seiner Wahl stellte er sich denn auch vor allem eine Aufgabe: Die neuen Mitglieder der Gemeinde aus Osteuropa, die ihr Judentum so lange Zeit in der Sowjetunion kaum hätten leben können, müssten in der jüdischen Geschichte, Tradition und Religion stärker geschult werden – damit auch die Enkel der jetzigen Generation noch „jüdisch bleiben“.
Zwar sind sich über dieses Ziel im Grunde alle einig. Aber die markigen Worte, die Brenner wählte, zeigten gegenüber dem geschmeidigen Nachama doch einen Wechsel im Tonfall an. Dazu passten auch die anderen zwei programmatischen Punkte in Brenners Rede: Die größte jüdische Gemeinde müsse wieder einen angemessenen Platz im Zentralrat der Juden in Deutschland erkämpfen – in Nachamas Zeit war die Berliner Gemeinde mit ihren Kandidaten für die Leitungsgremium des Zentralrats gescheitert. Zum anderen wolle er die Verbundenheit der jüdischen Gemeinschaft der Hauptstadt mit Israel betonen: In den deutschen Medien herrschten teilweise „verzerrte Informationen“ über diesen für alle Juden so wichtigen Staat vor.
Kamen diese neuen, eher harschen Töne an? Rabbiner Walter Rothschild, einer der führenden Köpfe der liberalen Repräsentanten, reagiert nicht gerade überschwänglich auf Brenners Wahl. Immerhin, sagt der Brite: „We can do business with him.“ Dass er Nachama nicht gewählt hat, ist klar: Der hatte ihn vor gut einem Jahr aus persönlichen Gründen fristlos entlassen. Jakob Schenavsky, Vorstand der liberalen Synagoge in der Oranienburger Straße, hofft, dass man nach der Abwahl Nachamas mit Brenner nicht „vom Regen in die Traufe“ komme. Ganz zufrieden scheint nur eine Gruppe zu sein: In der Gratulantenschlange, die gleich nach der Wahl vor Brenner entstand, waren fast nur Russen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen