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: SILKE BURMESTER über Erschossene und Betrogene

Wenn das Leben das Fernsehen imitiert (und nicht umgekehrt)

Es ist wieder Zeit, eine neue Fernsehpolitik zu fordern: den weißen Bildschirm. Ab sofort soll nur noch Weißbild ohne Ton aus den Fernsehern kommen! Denn nicht das Fernsehen spiegelt die Gesellschaft – das gesellschaftliche Geschehen ist zum Abklatsch der TV-Realität geworden. Ein unhaltbarer Zustand.

Nehmen Sie eine ganz normale Alltagssituation. Es klingelt. Vor Ihrer Tür stehen zwei Polizeibeamte. In Zivil. Sie kommen in die Wohnung, weil sie Ihnen etwas sagen wollen. Z. B., dass Ihr Mann tot ist. Dann sagen Sie „Tot?!?“ „Ja,“ sagt dann der ältere Beamte, „er wurde ermordet. Erschossen.“ „Ermordet, sagen Sie? Erschossen?!?“ Spätestens jetzt müssen Sie sich setzen, und Sie merken, dass Sie diesen Dialog irgendwo schon mal gehört haben. Und während Sie versuchen, zu begreifen, was der Herr gerade gesagt hat, erinnern Sie sich der vielen Freitagabendkrimis, die Sie gesehen haben, und fragen sich „Ist das hier jetzt ‚Der Alte‘ oder ‚Derrick‘?“ Und obwohl Sie wissen, wie das Ganze weitergeht, sagen Sie „Erschossen? Nein, das glaub ich nicht. Das kann nicht sein.“

Eine andere Situation, in der Sie keine Wahl haben, als sich als Statistin einer billigen RTL-Produktion oder eines französischen TV-Dramas zu fühlen, ist, wenn Sie erfahren, dass Ihr Mann eine andere hat. Für die erste Reaktion gibt es hier drei Standardsätze, die Sie je nach Persönlichkeit und Beziehung variieren können. Es handelt sich um: „Seit wann?“, „Wer ist es?“ und „Das glaub ich nicht!“. Nachdem diese gesagt sind, können Sie in Tränen ausbrechen – ihm eine scheuern, blind vor Wut auf ihn einschlagen, mit Brüllen anfangen. Und egal, ob Sie danach fragen, woher er sie kennt oder ob es etwas Ernstes ist, ob sie schon miteinander geschlafen haben oder wie alt sie ist, egal in welcher Reihenfolge die Fragen kommen und das Gespräch weitergeht, es wird Sie das bescheuerte Gefühl beschleichen, mitten im Film zu sein. Protagonistin der eigenen Reality-Soap eben. Sie werden trotz allen Schmerzes ganz schnell merken, dass Sie nicht die geringste Freiheit haben, hier irgendetwas individuell zu gestalten. Jede Szene Ihres persönlichen Debakels haben Sie schon hundertmal gesehen und gehört. Jeder Dialog, jeder mögliche Gesprächsverlauf wurde von drehbuchverfassenden Schreibtischtätern zu Filmdialogen verwurstet. Und während die Schmach ohnehin schon so grenzenlos ist, kommen Sie auch noch in die Situation, all diese platten, ausgelutschten Dinge sagen zu müssen und sich umso doofer zu fühlen. Es gibt kein Entrinnen aus der formalen Banalität Ihres Elends.

Nun werden die ewig Liberalen einwenden: Man muss ja nicht fernsehen. Stimmt. Aber was ist mit dem Bedürfnis danach? Sich ablenken zu wollen, etwas vorgeführt zu bekommen, passiv zu sein ist doch legitim. Da ist der weiße Bildschirm optimal. Die Möglichkeit, fernzusehen, ohne dass vorgelebte Stereotypen das eigene Handeln ad absurdum führen: die Freiheit des eigenen Films.