„Mit Hitler bin ich fertig“

„In Amerika hat man schon angefangen, mich mit Homer zu vergleichen“

Interview UTE SCHÜRINGS

taz: Herr Mulisch, Sie haben einmal gesagt, Sie seien der personifizierte Zweite Weltkrieg. Warum?

Harry Mulisch: Weil meine Mutter Jüdin war und mein Vater mit den Deutschen zusammengearbeitet hat. Hinzu kommt, dass der Zweite Weltkrieg genau die Zeit war, in der ich erwachsen wurde. Als der Krieg anfing, war ich zwölf, als er aufhörte, siebzehn. Also, mein Menschwerden, oder sagen wir, mein Erwachsenwerden fällt genau zusammen mit dem Krieg.

In Ihrem neuen Roman, „Siegfried“, geht es um Hitler. Warum wollten Sie gerade über Hitler schreiben?

Ohne Hitler wären meine Bücher – eigentlich alles, was ich geschrieben habe – nicht denkbar. Schrecklich, aber so ist es.

Die meisten Ihrer Werke handeln vom Zweiten Weltkrieg – „Der Anschlag“, „Das steinerne Brautbett“ –, Ihr frühes Buch von Eichmann. Haben Sie sich langsam an Hitler herangetastet?

Das stimmt. Und jetzt ist es vorbei.

Haben Sie für sich persönlich das Rätsel gelöst?

Der Mann in meinem Buch hat es gelöst, Rudolf Herter.

Aber es gibt doch deutliche Parallelen zwischen Ihnen und Herter, schon auf den ersten Seiten?

Natürlich. Nur dass Herter am Ende stirbt und ich nicht. Ich sitze ja hier.

Sie sagen, dass Schreiben für Sie ein Dialog ist. Wie war es, so lange mit dieser Geschichte im Dialog zu stehen? War das gefährlich, unheimlich?

Beides. Und Rudolf Herter im Roman fühlt auch, dass es gefährlich ist. Daher erscheint es ihm ratsam, einen Erzähler zwischen sich und Hitler einzubauen. Das gilt auch für mich. Ich musste einen Schriftsteller zwischen mich und Hitler schieben, Rudolf Herter. Er hat mein Kreuz auf sich genommen.

Herter ist also so etwas wie Ihr Sohn, der für Sie gestorben ist?

Der Erlöser, ja. Aber ob das alles so buchstäblich genommen werden muss, weiß ich nicht. Ich habe mich in eine Gefahrenzone begeben. Ein Schriftsteller darf davor nicht zurückschrecken. Es war für mich auch ein Abenteuer. Wenn es das nicht wäre, warum sollte ich dann schreiben?

Sie stellen Hitler sehr menschlich dar, zeigen seinen privaten Alltag.

Er muss sich die Nägel schneiden.

Er zeugt ein Kind mit Eva Braun.

Ich hätte in dieser Richtung noch viel weiter gehen können. Ich habe mich noch sehr zurückgehalten. Es sind nur ein paar Dinge. Dass er da nackt mit Eva im Zimmer steht oder dass sie ihm die Fußnägel schneidet. Das genügt. Den Rest kann sich jeder Leser selber ausdenken.

Sie haben angekündigt, mit dem vorliegenden Buch eine definitive Aussage über Hitler zu machen. Ist für Sie damit eine Art Endpunkt erreicht?

Mit Hitler bin ich fertig. Ob das auch für den Leser gilt, steht auf einem anderen Blatt.

Und der Zweite Weltkrieg ist für Sie nun auch auf Abstand gerückt?

Das ganze 20. Jahrhundert eigentlich.

Wenn Sie etwas so Provozierendes behaupten, wie Hitler verstehen zu wollen, rechnen Sie sicher mit Kritik.

Ich hatte einige Bedenken wegen der Reaktionen von jüdischer Seite, und gespannt bin ich auch auf das Echo in Deutschland. Im Jüdischen Wochenblatt hier in den Niederlanden war eine sehr gute Besprechung, und die ersten Stimmen in der deutschen Presse sind auch positiv. Aber es gibt eine Schule, der zufolge es unmoralisch ist, Hitler verstehen zu wollen. Wenn man hingegen sagt, Hitler ist nichts, dann hat man nichts verstanden. Vielleicht wird man mir auch vorwerfen, Hitler sakralisiert zu haben. Im Roman spricht Herter das auch aus. Schließlich habe ich, das heißt Herter, Hitler mit dem philosophischen Begriff des „Nichts“ identifiziert. Das könnte man mir zum Vorwurf machen. Aber Hitler war sakral für die Deutschen. Und dieses Sakrale machte es möglich, seine Pläne zu verwirklichen.

Im Roman sagt Rudolf Herter, dass er sich von seinem Ruhm nichts zu Eigen macht. Er wird zwar immer verglichen mit großen Dichtern wie Homer, Dante und Goethe – aber eigentlich will er der Junge von 18 Jahren bleiben, der an einem Fenster mit Eisblumen sitzt und seine erste Geschichte schreibt.

Das sagt er, aber das ist noch nicht alles. Er will sich zwar selbst nicht mit Homer gleichsetzen, aber er sagt auch, und das ist vielleicht doch nicht so bescheiden, dass er so etwas immer schon für sich gewesen ist. Auch als er vierzehn war und noch keinen Grund hatte, das zu denken.

Was zu denken?

Dass er ein Genie ist. Das dachte ich auch, als ich vierzehn war. Ich wusste nur noch nicht, worin. Aber ich hatte schon das Gefühl: Ich bin etwas ganz Besonderes. Vielleicht haben viele Jungendliche das – auch wenn sie es dann nicht werden. Was ich übrigens nicht glaube. Ich denke, wenn man so ein Gefühl hat, dann ist da auch was.

Wann haben Sie geahnt, dass das Schreiben Ihr Weg ist?

Das war, als ich meine erste Geschichte schrieb. Ich habe nie Schriftsteller werden wollen. Wer es werden will, ist es nicht. Man ist es, oder man ist es nicht. Mit neunzehn habe ich meine erste Geschichte geschrieben, und die wurde publiziert. Das war 1946, kurz nach dem Krieg. Damals wusste ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Mein Vater war im Lager, im Gefängnis. Ich war von der Schule geflogen. Und da dachte ich, das ist es. So fing alles an.

Hier in den Niederlanden ist es sehr unüblich, sich selbst als Genie zu betrachten. Aber das niederländische „Doe maar gewoon“ – „Bleib auf dem Teppich“ – scheint Ihnen eher fern zu liegen?

Ich bin auch mehr mit dem deutschen Kulturgut aufgewachsen – mit Faust – als mit den holländischen Eulenspiegeleien. Die Deutschen haben mit der Genieverehrung kein Problem und die Amerikaner auch nicht. Dort hat man ja angefangen, mich mit Homer zu vergleichen. Die Amerikaner sind naiver, sie bewundern gerne. In Holland wird die Bewunderung nicht bewundert. Die Holländer sind ein Volk von Kaufleuten. Und es ist ein kleines Land. Alles ist klein, also müssen die Schriftsteller auch klein sein. Niederländisch ist die einzige Sprache, in der man „het zonnetje“ sagen kann: das Sönnchen. Das gibt’s nur in Holland.

Und das hat Einfluss auf niederländische Schriftsteller?

Ich denke schon. Hiesige Schriftsteller würden nicht von sich behaupten, dass sie selbst bedeutend sind. Das macht man nicht. Wenn ich das in „Siegfried“ so beschreibe, dann ist das natürlich auch Selbstironie. Das Overstatement gefällt mir besser als das Understatement. Etwa das Overstatement in den Romanen Dostojewskis. Ich bewundere diese fürchterlichen, wahnsinnigen Zustände, vor denen Dostojewski nicht zurückschreckt. Er schreibt keine kleine, naturalistische Geschichte. Die holländische Tradition dagegen ist realistisch-naturalistisch. Sie hat Wunderwerke hervorgebracht, etwa Johannes Vermeer. Aber so jemanden wie Tintoretto gibt’s hier nicht. Es gibt auch keine Mythologien und keine bedeutende Philosophie. Der große holländische Philosoph Spinoza war in der gleichen Lage wie ich, er war der Sohn von Einwanderern.

„Das Overstatement gefällt mir besser als das holländische Understatement“

Und doch haben Sie fast Ihr ganzes Leben lang in den Niederlanden gelebt.

Nur die echten Holländer ärgern sich über Holland und gehen weg, nach Paris etwa. In Paris denken sie dann nur an Holland. Man sagt mir oft: Du hast genug Geld, warum gehst du nicht ins Ausland? Meine Antwort ist immer: Ich bin hier im Ausland. Wenn die Holländer sagen, wir haben im 17. Jahrhundert ein goldenes Zeitalter gehabt – dann gilt dieses „wir“ nicht für mich.

Diese Haltung haben Sie bis heute bewahrt? Sie sind in den Niederlanden geboren, aufgewachsen und verbrachten Ihr ganzes Leben hier. Trotzdem sagen Sie, Sie seien im Ausland?

Ich bin ein Gastarbeiter in zweiter Generation. Mit all diesen Einwanderern hier wird es auch so gehen. Die zweite Generation, die hier geboren ist und holländisch schreibt, diese Schriftsteller gibt es ja schon. Die werden nie dieses echt holländische Wir-Gefühl haben.

In ihrem Buch erwähnen Sie wieder die Herter-Hasser. Auch Sie selbst sind hier nicht unumstritten.

Es gibt die Mulisch-Hasser. Dies ist ein kleines Land, jeder kennt jeden. Aber es ist doch schön, wenn man in meinem Alter noch umstritten ist, ich hätte ja auch völlig kanonisiert sein können. Neid spielt natürlich auch eine Rolle. Aber ich bin kein polemischer Typ, ich habe zwar Debatten geführt mit anderen Schriftstellern, aber mir geht es bei Streitgesprächen nicht darum, zu gewinnen. Ich will zu zweit, mit zwei verschiedenen Meinungen, zu einem Resultat kommen. Ich bin eher für die Synthese.

Diese Haltung erinnert aber stark an die niederländische Konsenskultur.

Man ist hier weniger radikal. Auch in den Sechziger- und Siebzigerjahren blieb es hier ruhig, anders als in Deutschland. Man hat es gerade wieder an dieser Fischer-Sache gesehen. In Deutschland gab es die RAF. Menschen wurden ermordet. In Holland ging man nicht so weit. Aber dieses Faustische, dieses Zum-Äußersten-Gehen, das ist auch etwas, was mich an Deutschland fasziniert. Denn nicht nur Hitler fasziniert mich, sondern auch das deutsche Fasziniertsein von Hitler. Ich frage mich, wie so etwas möglich war. In England wäre Hitler unmöglich gewesen.

Hier auch?

Fast so unmöglich.

Warum?

Die Holländer sind Kaufleute, keine Philosophen. Eher schon Psychologen. Kaufleute müssen gute Psychologen sein, sie müssen ihren Handelspartner verstehen, um ihm ökonomisch den Hals abschneiden zu können. Sie wollen Geld verdienen. Die Deutschen sind zuweilen geneigt, ihre Seele zu verkaufen, wie Faust. Die Holländer verkaufen nur Sachen, die sie früher billiger eingekauft haben. Das ist der Unterschied zwischen Deutschen und Holländern.