Katastrophen bringen Glück

Blick in die Abgründe öffentlich-diskursiver Blödheit: Das zum sechsten Mal stattfindende „reich & berühmt“-Festival im Podewil zeigt aktuelle Arbeiten aus der deutschsprachigen Performance-Szene

von CHRISTIANE KÜHL

Der schwärzeste Tag in der Geschichte der kommerziellen Bergsteigerei war sehr schwarz, aber er wäre eben nicht der schwärzeste Tag in der Geschichte der kommerziellen Bergsteigerei, wenn er nicht auch sehr kommerziell gewesen wäre. Rückblickend muss man sogar feststellen, dass er mehr kommerziell als schwarz war. Die Kursgebühr, die die Leute für ihren Tod bezahlt haben, ist dabei unerheblich. Globaler denken! Katastrophen sind Angelegenheiten des Augenblicks. Ihre Vermarktung läuft potenziell ewig.

„Everest 96 – The Summit“, eine der vier Produktionen, die am Wochenende das „reich & berühmt“-Festival im Podewil eröffneten, nimmt eine reale Tragödie zum Ausgangspunkt. Am 11. Mai 1996 brechen zwei touristische Expeditionen zum Gipfel des Mount Everest auf und kehren auch dann nicht um, als ein Sturm aufzieht. Fünf Menschen kommen ums Leben. Eine großes Unglück. Damals. Heute ein Glücksfall. Die Überlebenden wurden Experten, und als solche touren sie bis heute durch die Gegend. Mit Werbewand der Sponsoren, Diashow, Book-Display und dem Willen, aus 15 Minuten Fame fünf Jahre zu machen. Alles soll gesagt sein.

Anna-Lisa Ellend und Albert Liebl konfrontieren die Zuschauer mit einer simplen Konferenzsituation. Auf der Bühne stehen ein Tisch mit fünf Mikros, eine Tafel, ein Overheadprojektor. Ein Moderator begrüßt die vier Spezialisten, die klären sollen, was 1996 wirklich geschah. Offensichtlich hat ihnen die Höhenluft jedoch einen ordentlichen Teil ihres Hirnes weggepfiffen: Es folgt ein Null-Diskurs, der sich endlos aus sich selbst generiert. Erst höflich, dann zänkisch, grotesk und immer komischer. „Everest 96“ liefert einen hübschen Panoramablick auf die Abgründe der öffentlichen diskursiven Blödheit.

Harriet Maria und Peter Meining alias norton.commander.production haben sich ebenfalls an der theatralen Nachbereitung einer realen Katastrophe versucht. Ihr „Terrain! Terrain! Pull up! Pull up!“ zitiert Blackbox-Aufzeichnungen aus den Cockpits diverser abstürzender Flugzeuge. Auf der Bühne nichts als zwei hohe Sitze von hinten, in denen sich Pilot und Copilot (Matthieu Carrière und Christian Kuchenbuch) bewegen; neben ihnen kleine Videokameras und Monitore, vor ihnen ein großer Videoscreen. „Der Film ist nicht das Leben, aber er kann es in bestimmten Momenten ersetzen“, wird Godard im Programmheft zitiert; dieser Satz und die Vorstellung, dass das eigene Leben sich im Augenblick des Todes noch einmal wie ein Film vor dem inneren Auge abspult, sind Inspirationsquelle der Inszenierung. Einer Inszenierung, die ihr großes Potenzial leider verschenkt. Zu schnell durchschaut ist ihre formale Struktur; inhaltlich hingegen lässt sich kaum etwas erschließen.

In stets gleichen Sequenzen ist erst eine kurze Beschreibung des Unglücks zu lesen, dann sprechen die Schauspieler den überraschend unaufgeregten Blackbox-Dialog, während auf dem Screen Flugsimulationen zu sehen sind. Unterbrochen werden die kurzen Szenen in ermüdender Regelmäßigkeit von Spielfilmeinblendungen, die über den Schnitt-Gegenschnitt-Trick mit der Livesituation suggerieren, die Piloten würden mit den Filmstars sprechen. In seiner Zusammenhanglosigkeit tötet das alles an Dynamik, was sich in einer so statischen Bühnensituation überhaupt entwickeln kann. Schade. Schöne Momente hat die Produktion, wenn sie ihr eigenes Angebot zum Spiel annimmt: Etwa wenn Matthieu Carrière auf dem Monitor sich selbst, 29 Jahre jünger, in Harry Kümels „Malpertius“ von 1972 begegnet und begrüßt: „Du siehst aus wie ein feuchter Traum von Joop.“

Das sechste „reich & berühmt“-Festival stellt wie seine Vorgänger aktuelle Arbeiten aus der deutschsprachigen Performance-Szene vor. Dank eines 250.000-Mark-Zuschusses vom Hauptstadtkulturfonds ist es den Kuratorinnen Aenne Quiñones und Kathrin Tiedemann in diesem Jahr möglich, mit 42 Veranstaltungen in zwei Wochen ein sehr dichtes Programm zu präsentieren. Die Mehrheit von ihnen hat das Podewil auch produziert bzw. koproduziert, darunter erstmals zwei transkontinentale Projekte: Die Berliner O.K-GIRL$ sind für ihre „L. A. Diaries“ nach Los Angelos aufgebrochen, und der Filmwissenschaftler Marc Siegel wird mit der Drag Queen Vaginal Davies „Cheap Jewelry. Ein Obstkorb für Jack Smith“ im Prater zeigen. Außerdem im Programm: neue Arbeiten von She She Pop, Gesine Danckwart/Remsi Al Khalisi oder Till Müller-Klug/Katka Schroth.

Welche kreativen Möglichen in den interdisziplinären Arbeiten liegen, zeigte am Wochenende eindrucksvoll das Odysee_Lab/3 des Theaterhauses Weimar mit „Being Bastard“. „Ich glaube, dass es in diesem System drastische Mutationen gibt“, sagt da eine der Figuren programmatisch im Lounge-Office: „Man kann sich nicht auskennen, man kann sich nur ausbreiten.“ Janec Müller zeigt Realität als Versuchsanordnung, die selten zu durchschauen, aber spielerisch zu handeln ist. Die Videos von Michael Vögtlin und Daniel Wagner sind dabei keine Deko, sondern konstituierendes Moment des Geschehens. In ihrer Überschneidung von Pre-Recordings, Live-Cam und digitalen Effekten wird das Labor zum Blueprint des modernen Seins. „Being Bastard“ ist klug, entspannt und komisch. Die Probanden lächeln: „Ich habe ein Spiel gemacht, und ich lebe es besser als mein eigenes Leben.“

„reich & berühmt“, bis zum 25. 5. im Podewil, Klosterstraße 68–70, Mitte; weitere Infos unter www.podewil.de