wenn einer keine reise tut . . .
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von KARL WEGMANN

Spätnachmittag. Willy sitzt auf der Terrasse und schaut seinen Pflanzen bei der Photosynthese zu. Aus den Außenlautsprechern kriecht Jim Whites „No Such Place“ und versucht den Amseln die Überlegenheit der menschlichen Stimme zu beweisen. Ein ungleicher Kampf. Willy gießt sich noch einen Blauen Burgunder ein. Ein friedliches Bild – einerseits. Andererseits ein Bild von erschreckender Langeweile. Aber Willy ist ein sehr häuslicher Mensch.

Als ich dazukomme, hat er die Flasche schon fast erledigt. Er schlurft ins Haus und holt eine neue. „Ich kann dir sagen“, sagt er mir, „nichts als Stress und Ärger.“ – „Lass mich raten“, sage ich, „Blattläuse? Nein warte, ich weiß, du hast auf deinem Konto eine Million Mark gefunden und willst sie der CDU schenken, aber die will sie nicht.“ – „Viel schlimmer“, jammert er, „ich habe eine Reise nach Paris gewonnen.“ Das macht mich für einen Augenblick sprachlos. „Äh, wieso . . .“, stammele ich blöd rum, „ist doch toll. Oder?“ – „Absolut nicht“, antwortet er. „Warum glauben nur alle, dass Reisen etwas Wunderbares ist.“ – „Na ja“, sage ich, „andere Länder, andere Städte, neue Menschen kennen lernen, so Sachen eben, ist doch spannend.“ – „Nicht für mich“, sagt er bestimmt.

Ich gebe auf. „Okay, erklär’s mir“, fordere ich ihn auf. „Also“, hebt er an, „ich habe ein Wochenende in Paris gewonnen, frag lieber nicht, wie.“ – „Wie?“ Er stöhnt: „Ich war der fünfzigtausendste Kunde bei meinem Weinhändler.“ Ich grinse. „Das Ganze ist allerdings eine Busreise“, erklärt er, „das heißt: Freitagmorgen um sechs Uhr Abfahrt zusammen mit zwei Dutzend Deppen, Ankunft in Paris sechs Uhr abends. Ins Hotel einchecken, frisch machen, Abendessen. Danach ein Zug durchs Quartier Latin. Hotel, pennen. Samstagmorgen früh raus, Frühstück gibt’s nur bis neun. Dann der übliche Touristenquatsch. Völlig fertig ins Bett. Sonntag wieder früh raus. Frühstücken, packen und ab in den Bus mit zwei Dutzend total verkaterten Deppen. Das ist nicht meine Vorstellung von einem gemütlichen Wochenende.“ – „Dann fahr eben nicht“, sage ich. „Ich hab einen Fehler gemacht“, gibt er zerknirscht zu, „ich habe Marlies davon erzählt. Und die will unbedingt, ist schon ganz aus dem Häuschen. Hat schon eine Liste angelegt, was sie sich alles anschauen will. Jetzt soll ich mir auch noch neue Klamotten kaufen für die große Reise. Der Wahnsinn ist in dieses Haus eingezogen.“ – „Soll sie doch ’ne Freundin mitnehmen“, schlage ich vor. „Habe ich auch schon versucht“, sagte er, „aber die sind alle . . . warte mal . . .“, er schaut mich so seltsam an. „Vergiss es“, ich schüttle den Kopf.

Jim White singt „God was drunk when he made me“, und diese hübsche Blasphemie ist zurzeit der einzige Lichtblick auf Willys Terrasse. Die Amseln geben endgültig auf. „Ihre Mutter!“, schreie ich fast. Willy schreckt hoch. „Das ist es!“, kreischt er und wirkt plötzlich viel jünger. „Und ich werde dir für das Wochenende einen Eimer grüner Farbe besorgen“, verspreche ich „dann kannst du dich grün anmalen und ausgiebig mit deinen Freunden Photosynthese machen.“ – „Perfekt!“, sagt er.