Dreißig Jahre manifest links

Die italienische Tageszeitung „Il Manifesto“ hatte Geburtstag. Das unabhängige Blatt überstand zahlreiche Existenzkrisen. Die Ähnlichkeit ist verblüffend: Zum Jubiläum gab’s vier Tage Kongress

von SUSANNA BÖHME-KUBY

In der gedrückten Wählerstimmung der italienischen Linken gab es vorige Woche einen Lichtblick: Vier Tage lang zelebrierte Il Manifesto in Rom mit Debatten und Konzerten im autonomen Jugendzentrum „Villaggio Globale“ sein dreißigjähriges Bestehen. Die einzige unabhängige Tageszeitung Italiens finanziert sich wie die taz fast ausschließlich über den Verkauf und hat kaum Werbeeinnahmen.

Als die erste Nummer mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren am 28. April 1971 erschien, prophezeite man dem Blatt eine Lebensdauer von maximal drei Monaten. Die Zeitung bestand aus vier dicht beschriebenen Seiten, hatte keine Fotos und kostete den politischen Preis von fünfzig Lire – damals viel Geld. Die Gründer verstanden sich als kritisches Forum der Linken und hatten das Ziel, „den realen Sozialismus und die größte kommunistische Partei des Westens zu reformieren“. Zuvor hatten sie sich von den italienischen Kommunisten distanziert, weil diese den Sozialismus in der Sowjetunion kritisierten.

Kein Pessimismus

Heute steht man vor den Trümmern, „und in zwei Wochen geht das Licht aus“, schreibt Gründervater Luigi Pintor im Leitartikel der Sonderbeilage zum Jubiläum. Doch so pessimistisch waren die Teilnehmer der großen engagierten Podiumsdiskussion am Geburtstag nicht: Das Wahlergebnis vom 13. Mai stehe – trotz der gebetsmühlenartigen Beteuerungen Berlusconis – noch nicht fest. In jedem Fall sei die gesamte Linke aufgefordert, sich auf gemeinsame Grundwerte zu besinnen und endlich eine Alternative zum Neoliberalismus zu entwickeln, die den aktuellen Erfordernissen der globalen Situation entspricht.

Der Neoliberalismus ist eines der Hauptthemen von Il Manifesto, und es stellt sich heute die Frage, ob und inwieweit es ein Forum für ein alternatives politisches Projekt werden kann. Chefredakteur Riccardo Barenghi stellte die Forderung nach einer notwendigen Aufarbeitung der Versäumnisse und der Verantwortung der Regierungslinken für den erneuten Aufstieg Berlusconis. Auch Nobelpreisträger Dario Fo bedauerte, dass die Linke sich erst vom Economist ermutigen lassen musste, Berlusconi anzugreifen. Der Gewerkschaftschef der CGIL, Sergio Cofferati, sah in der starken Aufmerksamkeit, die die Zeitung seit jeher der Arbeitswelt gewidmet hat, einen ausbaufähigen Ansatz und machte den Verlust der zentralen Rolle der Arbeit in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als einen der Gründe für den Niedergang der Politik überhaupt aus.

Neben der Frage, was Il Manifesto in Zukunft sein soll, stand in der Fülle von Zuschriften, Glückwünschen und Artikeln der Sonderbeilage im Vordergrund, was die Zeitung in drei Jahrzehnten für die meisten Leser war und ist: Viel mehr als eine Zeitung, nämlich ein geistiges Lebensmittel, das in seiner Komplexität oft bis zur Widersprüchlichkeit, in seiner ideologischen Kohärenz und gleichzeitigen Offenheit und intellektuellen Neugier unverzichtbar geworden ist.

„Ein immer willkommenes Good Morning in unserem ewigen Vietnam“, so definierte es ein Mitarbeiter. Ein hohes kulturelles Niveau auf asketischer Grundlage verleiht dem Blatt eine Raffinesse, die ihm einen elitären Charakter gibt. Wahrscheinlich ist Il Manifesto nie zu einem Massenblatt geworden, weil es einfach zu anspruchsvoll ist. Die verkaufte Auflage bewegt sich heute bei 30.000 – zum Überleben eigentlich zu wenig.

Vor zehn Jahren, im Golfkrieg, als Il Manifesto seinen letzten eigenen Korrespondenten in Bagdad hatte, war die Auflage dreimal so hoch wie heute. Die Zeitung bot damals die einzige italienische Informationsalternative zur übrigen US-gelenkten Presse. Doch während die Unità, die Ex-Parteizeitung der italienischen Kommunisten, vorübergehend aufgeben musste und erst kürzlich wieder auferstand (und auch die Liberazione nur als Parteiorgan der kommunistischen Neugründung PRC überleben kann), hat Il Manifesto alle materiellen Existenzkrisen mittels Solidarität seiner Leser überwinden können.

Freiheitlich wie Marx

Die letzte überstand sie 1995 durch Gründung einer Aktiengesellschaft, deren Mehrheit von der Redaktionsgenossenschaft gehalten wird. Daneben hat es in den letzten Jahren eine zwar behutsame, aber nicht schmerzlose Halbierung der Redaktion gegeben. Auch der Generationswechsel in der Direktion des Blattes von Mitbegründer Valentino Parlato zu Barenghi verlief trotz aller auch formaler Neuerungen innerhalb einer idealen Kontinuität. Die Aktionärsversammlung beschloss 1997 den Untertitel „kommunistische Tageszeitung“ zu behalten – nicht im parteiischen Sinne, sondern mit der freiheitlichen und befreienden Konnotation, die das Adjektiv bei Marx hat. Dass diese Charakterisierung Anzeigenkunden eher abschreckt, nahm man bewusst in Kauf. Denn die spartanische Grundsubstanz des Blattes kann immer wieder auch als Vorteil begriffen werden: Der tägliche Überlebenskampf schärft die Sinne und nähert die eigenen Existenzbedingungen denen der breiten Masse an. Dabei besteht natürlich weiter die Hoffnung, die Lebensumstände allgemein verbessern zu können.

Das Fortbestehen von Il Manifesto und sein politisches Wirken durch drei Jahrzehnte wird sowohl von den Beteiligten als auch den Beobachtern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und ideologischen Positionen anerkennend als ein Wunder bezeichnet: eine konsequent linke Tageszeitung, die allen Marktgesetzen zum Trotz überlebt. Vielleicht handelt es sich um einen historischen Rest jenes Sonderfalls Italien, der dem sozialen Konflikt so breiten Raum gelassen und einst zur bedeutendsten kommunistischen Bewegung Westeuropas geführt hatte.