die stimme der kritik
: Betr.: Die Widersprüchlichkeiten unseres Systems

Graffiti und andere zufällige Wortkombinationen

Neulich saßen wir in einem Kreuzberger Restaurant und aßen Kaiserschmarren. Wir waren gerade von der Ausstellung „Körperwelten“ – das ist die mit den plastizierten Leichen – gekommen und hatten Hunger. Ein paar Tische weiter saß eine Gruppe von Menschen; vielleicht grüne Abgeordnete, die irgendwas feierten oder hier ihren Stammtisch hatten, vielleicht waren es auch nur Touristen. Einer aus der Gruppe, ein Mann so um die fünfzig, war wohl der Chef und redete ständig. Es ging um 68 und die Kommune 1.

Kunzelmann, so sagte der Mann lachend, hätte damals doch nur seinen Spruch von dem Vietnamkrieg, der ihn nichts angehe, solange er Orgasmusschwierigkeiten habe, getätigt, weil er sonst nie zum „Stich“ gekommen wäre. Bekanntermaßen sei der Aktionspolitologe unglaublich hässlich gewesen, witzelte der Mann Beifall heischend. Wir fanden ihn komplett doof, weil es schön ist, in einem Stadtteil zu wohnen, in dem 68er lustig auf Drahteseln durch die Gegend reiten. Wenn sie an roten Ampeln halten würden, könnten sie Zettel lesen, die auf die Widersprüchlichkeiten unseres Systems aufmerksam machen.

Neulich wurde die Love Parade auf einem sozialistischen Zettel entlarvt. Es ging darum, dass eine Love Parade, „die ihren Namen verdient“, diese und auch jene Widersprüche aufzeigen müsse, dass statt der angestrebten „Orgasmie“ nur „verlassene RaverInnen“ produziert werden würden, kurz: dass die Wirklichkeit schlechter sei als die Bilder, die von ihr produziert werden. Das Pamphlet war so beschädigt wie die Verhältnisse, von denen es sprach. Schade einerseits; andrerseits bewirken zerrisene Zettel und aufgeschnappte Wortfetzen vermutlich eine intensivere Nachdenkerei als komplette Texte. (Ich selbst habe eben im Stillen auch kurz nachgedacht.)

Sehr gut gefallen mir auch immer Kürzestdialoge, wie neulich auf dem duften taz-kongress. Z. B.: „Du bist rechts!“ (Ted Geier) – „Beweis mir das!“ (Bettina Röhl) – oder auch die diffusen Parolen, die an Kreuzberger Hauswänden so rumhängen: „Being alone“, „We don’t need no politics“, „Sex gut“, „Live till we die“ oder „I was her“. Die letzte Parole gefällt mir am besten. Zufällige Kombinationen sonstenfalls entfremdet vereinzelter öffentlicher Sätze können auch toll sein. An einem Eckhaus in der Nähe im schönen Kreuzberg hier sagt ein Schild zum Beispiel: „Frauenarzt um die Ecke“. Wenn man wie empfohlen um die Ecke biegt, sieht man ein Graffito: „Fickt alle!“ DETLEF KUHLBRODT