Hölle unterm roten Stern

Wahre Lokale (69): Im Freiburger „Crash“ nächtigen die letzten Helden der Unterwelt

Hier macht es nichts, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, es gibt so viel zu sehen

Wenn Klaus Kinski, Charles Bukowski und Sid Vicious noch unter den Lebenden weilten, würden sie hier ihren Whisky kippen. Irgendjemand hätte ihnen verraten, dass sie hier die wahre Pforte zur Unterwelt finden: Das „Crash“ ist so ziemlich das dunkelste, lauteste und unbequemste Lokal links oder rechts des Rheins. Es öffnet seine zerkratzten Metalltore nicht in düsteren Weltmetropolen wie Köln, Koblenz oder Karlsruhe, sondern in Freiburg. Ausgerechnet im beschaulichen Freiburg. Wie ein abgewracktes U-Boot lauert es hier unter der braven Oberfläche aus Weinstuben, Salatbars und Milchcafé-Schenken.

Hierher kommt, wer schon alle anderen Abenteuer des Lebens kennt, viel Mut oder nichts mehr zu verlieren hat. Über raue Betonstufen geht es hinunter in die Dunkelheit. Dort der dezente Hinweis in krakeligen Lettern: „Eingang aus witterungsbedingten und politischen Gründen links“. Wer dem sicherheitshalber hinzugefügten Pfeil folgt, gelangt durch die zweite Pforte in einen Schlauch von undefinierbarer Länge, dessen linke Seite eine kinnhohe Metalltheke ziert, während zur rechten flimmernde Apparate zum Glücksspiel verlocken. Ganz hinten stehen selbstverständlich Kicker und Flipper, auf denen sich Volltrunkene gern ein Nickerchen gönnen.

Die dritte Pforte und vier weitere Stufen abwärts führen endlich in den letzten Kreis der Hölle. Zu keifenden Bässen regen sich hier Gestalten, die Tarantinos Vampirtaverne in „From Dusk Till Dawn“ oder die „Rocky Horror Picture Show“ als biedere Kaffeekränzchen erscheinen lassen. Da gibt es die in schwarzen Samt gewandeten Pärchen, deren weiß geschminkte Gesichter im Kunstnebel unsichtbar werden. Unübersehbar funkeln dagegen die blauen, roten und grünen Mähnen kettenbehangener Strumpfhosenträger: Je enger das Beinkleid, desto breiter die Stiefel. Dazwischen betagte Herren mit Brian-Jones-Tattoos auf den vernarbten Unterarmen. Auch der eine oder andere Elvis breitbeinelt hie und da im Takt. Die dunklen Ecken hinter Lautsprechern von den Ausmaßen eines Kleinwagens sind im „Crash“ zudem so zahlreich, dass einige harthörige Gesellen dort ihr Nachtlager einrichten können: mit einer kuscheligen Tageszeitung auf Beton.

Weil das „Crash“ so crashig ist, mokieren sich ordnungsliebende südbadische Stadtväter in geordneter Regelmäßigkeit über dieses unordentliche Lokal. Seit Jahren halten sich Gerüchte, dass „das Crash jetzt wirklich geschlossen werden soll“, und trotzdem öffnen sich die Tore zur Unterwelt immer wieder. Wohin auch sonst sollte man in Freiburg entfliehen, wenn einem die zufriedene Wohllebe der Wein-, Bächle- und Studentenstadt zu Kopfe steigt? Nur hier bekommt man sein Bier in einem stabilen Plastikhumpen, den ein roter Stern ziert. Hier wird alles in fettiges Zigarettenpapier gerollt, was sich irgendwie rauchen lässt. Die Damen hinter der Theke haben diesen abgeklärt-uneitlen Blick, und der Herr am Plattenteller das sichere Händchen für Melodien, die man in keiner anderen Lokalität serviert. Hier macht es nichts, dass man sein eigenes Wort nicht versteht, es gibt so viel zu sehen. Wer hierher kommt, kann sich Kino und Theater sparen.

Das „Crash“ ist eines der wenigen Etablissements, die an das in den Achtzigerjahren legendäre Freiburger Bahnhofsviertel erinnern. Wo sich einst ein besetztes Haus auf das andere stützte, stehen heute saubere Mietwohnungen in Reih und Glied. Dazwischen verstecken sich bunte Inseln wie das „Jos Fritz“ oder das „Strandcafé“ in Hinterhöfen. Jene Baracke dagegen, die das „Crash“ beherbergt, zieht die Blicke aller Zugreisenden zwischen der Schweiz und Westdeutschland auf sich. Auch hier ist es der rote Stern, der so unbeirrbar unzeitgemäß auf dem Giebel prangt. Die vorbeirauschenden Herrschaften wissen gar nicht, was sie verpassen.

Der Rausschmeißer im „Crash“ um vier Uhr sieben in der Früh ist selbstverständlich David Bowies „Heroes“. Bowie entlässt die letzten wahren Helden der Unterwelt ins fiese Dämmerlicht eines neuen Tages.

FLORIAN ALEXANDER