Pannen-Angstlust

DAS SCHLAGLOCH
von KLAUS KREIMEIER

Die Chaostheorie hatte nicht mit einer politischen Strategie gerechnet, die vorhersehbare Pleiten plant

„Die Angst vor der Panne hat die Angst vor dem Teufel der Apokalypse abgelöst.“

Lucien Sfez in „Le Monde diplomatique“, April 2001

Pannen strukturieren unseren Alltag – schon beim Aufstehen morgens plant man ja die zu erwartenden Fehlschläge ein (die häufig nicht oder anders als erwartet eintreten), und für das Unerwartete, das bestimmt kommt, hält man vorsorglich einen Speicherplatz im Nervensystem frei. Das war schon immer so; es hat die Menschen im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte „kontingenztüchtig“ gemacht, d. h., wir können ziemlich blind in offenen Landschaften navigieren und uns dabei einreden, wir hätten – bis auf die unvermeidlichen Pannen – alles im Griff.

Neu hingegen ist in der Tat eine immer mehr um sich greifende, gelegentlich ans Panische grenzende Angst vor der Panne. Genauer gesagt: Wir haben es mit einem Bündel von gemischten Emotionen zu tun, Gefühlen und Bewusstseinszuständen, die sich auf das Eintreten oder Ausbleiben von Pannen fixieren und keineswegs nur von Furcht und Zittern, sondern auch von (un-) heimlicher Faszination, von einer nachgerade theologisch fundierten Erwartungshaltung geprägt sind.

Eigentlich sollte man meinen, dass Pannen nicht eine so hoch gespannte Aufmerksamkeit verdienen – wäre nicht Aufmerksamkeit überhaupt, dieser Götze der Medienwelt, eine Art Saugapparat, der auf Missgeschicke (wenn sie anderen widerfahren) strukturell geeicht ist und auf Katastrophen (wenn sie im Nachbardorf passieren) buchstäblich lauert. Pannen haben Unterhaltungswert und verdienen schon aus diesem Grund, der zugegebenermaßen viel mit unseren primitiven Instinkten zu tun hat, ungeteiltes Lob.

Hinzu kommt, dass sich die Endzeitstimmung der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre ergebnislos verflüchtigt hat. Die Welt ist immer noch da, mit etwas flauem Gefühl im Magen halten wir nach wertbeständigem Unheil Ausschau. Nur die Pannen sind geblieben. Um die Jahrtausendwende diente der – teils befürchtete, teils herbeigesehnte – Computer-Crash noch einmal als Weltuntergangsersatz. Als auch der ausblieb, verlegte man sich wieder auf die vielen kleinen Untergänge des Alltags und verlieh ihnen nach der Devise „ein bisschen Apokalypse muss sein“ eine theologische Dimension. Das trieb den Börsenwert der Panne steil nach oben, und jetzt sind wir beinahe wieder, auch ohne Endzeitstimmung, in den Bewusstseinslagen von vor zehn Jahren angelangt. Die Politik hat viel geleistet, um die Furcht vor dem Fehlschlag ebenso wie die freudige Erregung, die mit ihm einhergeht, massenhaft zu verbreiten und zu massenpsychologischen Triebkräften zu machen. Man braucht nur die Schlagzeilen zu nehmen: Mit einer schon an Ekstase grenzenden Vorfreude auf die eigene Blamage hat die FDP auf ihrem Bundesparteitag – Projekt 18! – ihr Debakel für das Wahljahr programmiert. Angstlust muss es gewesen sein, die Westerwelle und die Seinen erst auf den Kurs Möllemanns und dann in die Sportpalast-Atmosphäre von Düsseldorf getrieben hat. Und weit über das Normalmaß hinaus, das jegliche politische Partei als ganz gewöhnliche, mehr oder minder unterhaltsame Pannen-Werkstatt erscheinen lässt, hat sich die CDU mit ihren schwarzen Kassen seit bald zwei Jahren in einer wahren Pannen-Hölle eingerichtet, einer Hölle ohne Teufel, in der jeder, der zufällig mit einem Koffer vorbeigeht, hoch willkommen geheißen wird. Bei dieser Partei fällt die Mischung aus frivoler Erregtheit und Gemütlichkeit auf, mit der unverzagt am Malheur von morgen gebastelt wird. Ein bisschen zittert man vor Angst, ein bisschen hofft man auf den nächsten Koffer.

Die Pannen-Obsession, die weite Bereiche des öffentlichen Lebens, Zuschauer wie Akteure, im Griff hält, gibt zu denken; hier zeichnet sich eine neue und durchaus heikle Komponente politischen und gesellschaftlichen Handelns ab. Das beginnt mit der unbeirrbaren Passion für wissentlich getroffene Fehlentscheidungen, mit der in Berlin der städtische Kulturhaushalt verwaltet wird – und endet erst mit der Lust am Untergang, die den US-Präsidenten umtreibt, wenn er Kioto aufkündigt und gleichzeitig das SDI-Programm von Mr. Reagan neu auflegt.

Vor Jahren hatte die Chaostheorie versucht, das Weltgeschehen als das vorhersehbar Unvorhergesehene zu lesen, und der Verkettung von Pannen dabei eine strukturierende, sozusagen mathematisierbare Qualität zugeschrieben. Vermutlich hatte sie noch nicht mit einer politischen Strategie gerechnet, die bei vollem Bewusstsein die unvorhersehbare Zukunft als eine Geschichte vorhersehbarer Pleiten plant – und mit Politikern, die in die Aussicht, noch vor der nächsten Wahl vor den Trümmern ihrer Projekte zu stehen, geradezu vernarrt sind.

Mit einer an Ekstase grenzenden Vorfreude plante die FDP auf ihrem Parteitag ihr Debakel im Wahljahr

Pannen sind also ein eigen Ding. Die Angst vor ihr beflügelt die Kräfte, in sie hineinzurennen. Sonst wären der rauschhafte Aufstieg und der rauschhafte Untergang der „dot.coms“ an den Technologiebörsen gar nicht zu erklären; Firmen, Analysten und Anleger sind hier gleichermaßen zu Treibern und Getriebenen derselben Psychose geworden. In der Informationsgesellschaft sieht der Sorbonne-Professor Lucien Sfez sogar einen Humusboden der modernen Pannen-Angst: Unter digitalen Bedingungen führe sie zu besonders fantastischen Exzessen, in denen sich nichts anderes als die uralte Angst vor dem Sterben offenbare. „In der Luftfahrt bedeutet die Panne den Tod. Hat sie diesen Sinn nicht auch in der Kommunikation?“

Klar, wenn ich meinen Computer anwerfe, riskiere ich seinen Absturz – das nimmt jeder Anfänger, aber auch jeder Programmierer in Kauf. Doch ausbleibende E-Mails kränken nicht tiefer als ein Brief, auf den man vergebens wartet. Offenbar wurzelt die Furcht tiefer. Nicht die Maschine selbst, sondern die von ihr ermöglichten Vernetzungen erzeugen Angst. Die Viren wurden erfunden, um uns angesichts einer komplett ver-webten, um- und eingegarnten Menschheit panische Pannen-Ängste einzujagen – denn logischerweise können in diesem Kuddelmuddel nur Katastrophen passieren. Die „Netz-Panik“ ist verbreitet, doch seltsamerweise passiert nichts, und dass nichts passiert, steigert wiederum die Panik – und die Lust an ihr. Mit den Kommunikationstechnologien gehen wir ähnlich um wie Westerwelle mit der FDP oder Schumacher mit seinem Ferrari: Es wird schon schief gehen, ein bisschen Apokalypse muss sein.

Inzwischen hat diese kokette Fröhlichkeit, in die sich die Pannen-Sehnsucht wie in einen Brioni-Anzug hüllt, auch unsere Einstellung zur Gentechnologie eingeholt. Man gewinnt den Eindruck, dass gerade die Angst vor dem Scheitern ihre wissenschaftlichen Verfechter und deren Ghostwriter nach vorne treibt. Dann hätte diese Angst allerdings nicht nur die Angst vor dem Teufel der Apokalypse abgelöst – vielmehr hätte sich der Teufel (oder das, was er einmal war) in den Seelen der Ängstlichen selbst einquartiert. Und die Apokalypse wäre nicht das, was kommt, sondern das, was schon immer war oder spätestens vorgestern begonnen hat.