Immer auf die Eruption lauern

■ Krimis, die das Wesentliche doch nicht klären: Sandor-Marai-Abend im Literaturhaus

Er ist ein guter Erzähler, zweifellos: Der Ungar Sandor Marai (1900–1989), derzeit unter lautem Verlags- und Feuilletongejubel wieder entdeckt und ediert. Seine Romane lesen sich wie Krimis, durchzogen von scharf gezeichneten Charakteren. Wie feine Fischchen winden sie sich um die offenen Fragen ihres Lebens, jene letzten Rätsel, auf deren Lösung die Protagonisten jahrzehntelang vergeblich warten.

Denn letztlich klären die Figuren ihre Verhältnisse nicht, immer bleiben die wahren Handlungsmotive verborgen – zynisch (oder natürlich?) angesichts der Tatsache, dass ihnen gerade dies am wichtigsten schien: „Das Wesentliche ist die Absicht“, sagt der Ex-Geliebte Lajos im Vermächtnis der Eszter (1939). „Die Absicht ist die Schuld“, betont in Die Glut (1942) Hendrik, der seinen Freund verdächtigt, ihn vor 41 Jahren fast ermordet zu haben.

Nach Jahrzehnten begegnen sich bei Marai, aus dessen Werken Christian Brückner jetzt im Literaturhaus liest, Menschen wieder, die noch Rechnungen offen haben. Langsam aufgerollt wird mit allerlei dramaturgischen Kniffen die eigentliche Geschichte: dass Hendrik seine Frau mit seinem Freund geteilt hat und dass Lajos statt seiner Geliebten aus einer Laune heraus deren Schwester heiratete.

Doch in solch kleinlichem Nachkarten erschöpfen sie sich nicht, die Geschichten, die die Kühle von Debussys Nachmittag eines Fauns und jene dem Untergang entgegendümpelnde Dekadenz von k.u.k., zweier Weltkriege und kommunistischer Diktatur atmen, vor der Marai 1948 in die USA floh. Von Heimatlosigkeit in dieser Welt sprechen vielmehr die Texte des Autors, der sich 1989 im Exil das Leben nahm, nachdem er nirgends mehr heimisch geworden war.

Vergeblich versuchen auch seine Figuren, ihre verschlungenen Biographien zu verstehen: „Wo liegt meine Schuld?“, fragt sich Hendrik angesichts des Seitensprungs seiner Frau. Und wo liegt, das fragen alle Figuren immer wieder, die „geheime Ordnung der Welt“, die sie als Morsealphabet aus Gegenständen und Ahnungen verstehen, das es zu entschlüsseln gilt. Das Unheil hinter dem scheinbaren Idyll, die plötzliche Eruption unter der Oberfläche wittert Marai auch in seinem Betrachtungen in Himmel und Erde (1942).

Und obwohl seine Figuren ihre Leidenschaften als eigentliches Lebenselixier betrachten – baröckern, klassizistisch oder einfach dekadent-verzweifelt? – bleiben sie rätselhaft. Aktuell und fremd wie die Julie in Franz Molnars Liliom kommen sie einem entgegen. Denn obwohl Marais Eszter den räuberischen Lajos durchschaut hat, vermacht sie ihm ihr Haus; obwohl die Antwort so nah ist, lässt Hendrik den Freund, der nach vier Dekaden wiederkehrt, nicht zu Wort kommen auf die Frage nach dem Mordkomplott.

Die Lust am Verschleiern, Erkenntnis und kaltes Zuwiderhandeln winden sich in Marais Büchern aalgleich umeinander – vorgeführt von Menschen, die in sich gefangen bleiben und keine Verhaltensänderung schaffen.

Kein Privileg der Vergangenheit ist all dies – und doch bleiben Marais Werke in einem Punkt so fremd, dass es einem schwerfällt, den gnädigen Weichzeichner postmoderner Literaturbetrachtung darüber zu legen: dann nämlich, wenn Sentenzen wie „Ein Gefühl, das nur die Männer kennen: Freundschaft ist sein Name“ (Die Glut) oder „Wir Frauen können nicht immer so klug und logisch sein“ (Das Vermächtnis der Eszter) ertönen. Dorthin will man Sandor Marai dann nicht mehr folgen.

Petra Schellen

Sandor Marai: Die Glut. München 1999, 224 S., 36 Mark. Das Vermächtnis der Eszter, München 2000, 165 Seiten, 34,90 Mark. Himmel und Erde, München 2001, 343 S., 38 Mark.

Lesung heute, Donnerstag, 20 Uhr, Literaturhaus