„Vergessen Sie die Gurkenlänge“

Schüler aus Berlin und Brandenburg spielen Europaparlament. Thema der heutigen Sitzung: EU-Osterweiterung. Entschieden wird, ob Polen der Union 2004 beitreten darf

. . . und Argumente wie ,Polen ist der Sündenpfuhl der Auto- und Frauenschieberei‘ “

„Es ist der 5. Mai. Wir sind im Jahr 2003. Wir sind in Straßburg – wo liegt Straßburg?“ Die Moderatorin, eine Frau mit Turnschuhen und grünem Jackett zur Jeans, hüpft vom Podium und steuert auf einen jungen Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) zu. „In Frankreich.“ Applaus. Den ersten Test hat der Jungparlamentarier bestanden. Frankreich ist richtig. Alles andere ist Fake.

Es ist der 8. Mai 2001. Wir sind im Großen Saal des Freizeit- und Erholungszentrums (FEZ) im grünen Ostberliner Außenbezirk Köpenick – und nicht beim Europäischen Parlament. Sebastian, ein 18-jähriger Abgeordneter der Grünen, kommt auch nicht aus Griechenland, sondern aus Brandenburg. Auch die 17-jährige Claudia ist nicht von der nationalistischen Fraktion der Unabhängigen für das Europa der Nationen, sondern Schülerin der Jüdischen Oberschule in Berlin. Parlamentsspiel nennt sich das. 150 Schüler aus Berlin und Brandenburg sollen sechs Stunden lang eine Tagung des Europäischen Parlaments simulieren. Thema der heutigen Sitzung: die EU-Erweiterung. Entschieden wird über den Beitritt Polens im Jahr 2004. „Wir wollen Jugendlichen zeigen, dass Entscheidungen auf europäischer Ebene durchaus Folgen haben“, sagt Doris Friedrich, die das Spiel für das Europäische Informationszentrum in Berlin entwickelt hat.

Zunächst aber gibt es Vorträge. Die Abgeordneten sind wieder ganz Schüler, blättern in Broschüren, legen ermattet den Kopf auf die Vorderbank, gähnen. Der erste Redner ist Zenon Kosiniak-Kamysz, Handelsrat der polnischen Botschaft. Argumente: „Historisch gehört Polen zu Europa. Wir bekennen uns zu Westeuropa, schließlich haben wir die lateinische Schrift, polnische Adelige sprachen französisch.“ Seit der Wende bereite sich Polen intensiv auf die Europäische Union vor. Die Inflationsrate sei gesunken, das Bruttoinlandsprodukt gestiegen. Und wenn man davon spreche, Polen solle erst einmal seine Hausaufgaben machen, dann solle man auch an Solidarność denken: Ohne die polnische Gewerkschaft stünde wahrscheinlich die Berliner Mauer noch. „Denken Sie nicht nur an die Länge der Gurken oder an die Bakterien im Joghurt“, sagt Kosinak-Kamysz zum Schluss, „denken Sie daran, dass die Teilung Europas zu Ende sein sollte.“ Das zieht. Tobias, den das Los zu einem sozialdemokratischen EU-Parlamentarier gemacht hat, findet „das mit den Gurken“ ein gutes Argument. Doris Friedrich aber langweilt Tobias. In der Rolle der Vorsitzenden des Ausschusses für äußere Angelegenheiten klärt sie jetzt über EU-Aufnahmekriterien auf, erwähnt nochmals die meistgenannten Argumente gegen den Beitritt Polens: Freizügigkeit und Kriminalität.

Dann geht es in die Fraktionssitzungen. Die Sozialdemokraten sind zögerlich. Erst mal Vorstellungsrunde? Erst mal inhaltlich in Gruppen aufteilen? Oder vielleicht rausgehen in die Sonne? Klar ist: „Als SPE haben wir keine andere Wahl, als für Polen zu sein.“ Gegenargumente müssen also entkräftet werden. Monique: „Ich bin jetzt Spanien, und für mich ist das nicht so toll, wenn Polen auch nach oben will.“ Gegenargument von Percy: „Je reicher die werden, um so besser.“ Eigentlich könne man das mit der DDR vergleichen.

Sebastian wäre lieber bei den Sozialdemokraten, aber das Los hat ihn zur konservativen EVP verschlagen: „Das ist hier unter aller Kanone“, findet er. „Überhaupt keine Diskussion und Argumente wie ‚Polen ist der Sündenpfuhl der Auto- und der Frauenschieberei‘ oder ‚die Polen haben keine Fachkräfte‘.“ Für die in Polen geborene Sandra ist klar: „Von den 70 Leuten der EVP kamen 60 aus Brandenburg und die waren alle gegen den Beitritt.“ Statt freundlichen krummen Gurken zeichnet der Sprecher der EVP lieber Bilder von Polen als „Made im Speck der Europäischen Union“ oder als „Klotz am Bein der EU“ .

Bei den Nationalisten sucht man nach Argumenten. Im richtigen Leben sind die Gruppenmitglieder eher für den Beitritt Polens. „Wie wär’s mit dem Argument, dass es in Brandenburg jetzt schon so viele Übergriffe auf Ausländer gibt und das dann noch schlimmer wird?“, fragt Claudia. Das Argument wird umformuliert in „soziale Konflikte“. Das steht dann neben „steigende Arbeitslosigkeit“ und „Verwischung der Kulturen“. Langsam funktioniert das Prinzip. Damit bei der geheimen Wahl nicht doch für Polen gestimmt wird, einigt man sich auf Fraktionszwang. Bei den Liberalen geht alles einfacher. Hier redet nur einer. Jung, dynamisch, in rosa Hemd und Jacket. Passt. Der wird auch Sprecher. Die Liberalen sind fast geschlossen für den Beitritt Polens.

Jetzt soll im Plenum debattiert werden. Die jeweiligen Fraktionssprecher stellen ihre Positionen vor. Sie wiederholen im Groben das, was der Botschafter und Doris Friedrich zwei Stunden zuvor als Argumente vorbrachten. Es wird viel geklatscht, viel ausgebuht, wenig sachlich diskutiert. Die Redner, alle männlich, bemühen sich vor allem um typische Politikergesten. Sie breiten die Arme aus, wenn sie sagen: „Europa ist jetzt schon viel zu groß.“ Sie treten ein wenig vom Rednerpult zurück, wenn sie resümieren: „Durch Europol kann die Kriminalität wesentlich besser bekämpft werden.“ Inhaltliche Diskussionen gibt es kaum. „Die Wirtschaft wird wachsen.“ „Nein.“ – „Doch.“ Ein typischer Dialog.

„Das hier ist wirklichunter aller KanoneÜberhaupt keineDiskussion . . .

Dann kommt es zur Abstimmung. Außer den Nationalisten ist nur die EVP gegen den Beitritt Polens. Bei der geheimen Abstimmung sprechen sich 82 Abgeordnete für und 37 gegen den Beitritt aus. Sechs enthalten sich, die anderen sind schon gegangen. „So ein tolles Ergebnis hatten wir noch nie,“ freut sich Klaus Suhl, Direktor des Europäischen Informationszentrums. In den 50 Parlamentsspielen, die das Zentrum bislang durchgeführt hat, stieg die Ablehnungrate der Jugendlichen sonst mit der Nähe zur polnischen Grenze. Der Botschafter ist deswegen hoch erfreut. „Die Jugendlichen haben als Jugendliche dieser Region gewählt. Dieses Ergebnis ist noch viel besser als die Prognosen.“ Laut Eurobarometer sind in Westdeutschland 36 Prozent der Bevölkerung für und 49 Prozent gegen einen Beitritt Polens. In Ostdeutschland ist die Akzeptanz höher: Dort sind 42 Prozent dafür und 40 Prozent dagegen.

KATJA BIGALKE