Tiefflug über globalem Raum

Die weltweite Liberalisierung ist gescheitert. Die Dritte Welt wird immer ärmer. Also erfinden Neoliberale eine neue Hilfstheorie: Viele Länder seien zu weit weg vom Meer

Durch den globalisierten Agrarhandel werden eine Milliarde Kleinbauern ihre Existenz verlieren

Das wohl abfälligste Urteil über eine Theorie ist, dass es schade um die Wirklichkeit sei, wenn sie im Gegensatz dazu stehe. Selbst dieses Verdikt hindert einschlägige Theoretiker nicht, an ihrem Überbau festzuhalten. Wird die Diskrepanz zur Realität unübersehbar, wird nach neuen (schein-)wissenschaftlichen Hilfsargumenten gesucht. So hat sich die Theorie der atomaren Abschreckung, zumindest bis zu einem Weltkrieg, unwiderlegbar gemacht. Und dass das Patentrecht sich nicht dazu eignet, die medizinische Forschung in der Dritten Welt zu stimulieren, soll nun mit der Ausweitung des Patentrechts bekämpft werden.

Eine weitere moderne Unfehlbarkeitstheorie ist die Behauptung, das Abräumen aller Wirtschaftsschranken werde allen Erdenbürgern Wohlstand bringen. Dieser Verheißung steht ein drastisch gewachsenes Gefälle zwischen Arm und Reich gegenüber. Doch stets lautet die Antwort der grenzenlosen Globalwirtschaftler: Es sei eben nicht schnell und umfassend genug liberalisiert worden. In der heutigen Globalwirtschaft wimmelt es vor Wirtschaftsexperten dieser Art, und selbst desaströse Beratungsergebnisse schmälern nicht ihre Reputation.

Wenn diese gar in „Harvard“ lehren, gelten selbst ausgemachte intellektuelle Tiefflüge noch als überlegene Weisheiten. Zwar singen längst die Spatzen von allen Dächern, dass die Radikalkur der unverzüglichen Liberalisierung, die Harvard-Ökonomen der russischen Wirtschaft empfahlen, nicht zu einer Marktwirtschaft, sondern zu einer Raubtierwirtschaft führte. Doch unverdrossen wird den Entwicklungsländern Gleiches empfohlen. Wenn es schief geht, waren sie stets selber schuld.

Pars pro toto steht dafür auch der Essay des Harvard-Entwicklungsökonomen Ricardo Hausmann, zuvor (offensichtlich nicht sehr erfolgreicher) Planungsminister von Venezuela, der in der Foreign Policy und in der Zeit veröffentlicht wurde. Darin geht er der Frage neu nach: Woher kommt die wachsende Ungleichheit der Welt? Warum war etwa Westeuropa im Jahr 1820 nur 3-mal so reich wie Afrika und warum ist dieser Faktor bis Anfang der 1990er-Jahre auf 13 angestiegen – und warum verfügten die reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung 1960 über das 30fache des Einkommens der ärmsten 20 Prozent, aber mittlerweile über das 76fache? Sein Resümee: „Viele geben der Globalisierung der Wirtschaft die Schuld an Armut und Ungerechtigkeit in der Dritten Welt. In Wahrheit ist aber gerade das Fehlen – oder eine unzureichende Dosis – von Globalisierung für diese Ungleichheiten verantwortlich“. Es müssten eben die „Grenzen für Menschen, Waren und Kapital durchlässiger“ werden. Da dies jedoch bisher, wie empirisch zu sehen, nicht zu den versprochenen Resultaten führte, findet Hausmann ein schönes neues Hilfsargument: Die Misere der Dritten Welt gründe in ihrem räumlichen Schicksal.

Kein Wort über die bis heute nachwirkenden Resultate und wirtschaftlichen Strukturen des Kolonialismus; kein Wort über die Rohstoffausbeutung zu immer niedrigeren Preisen; kein Wort darüber, wie soziologisch verheerend es war, dass zentralisierte Infrastrukturen und industrielle Wirtschaftsformen in überwiegend agrarischen Ländern implantiert wurden. Das eigentliche Problem sei vielmehr, so Hausmann, dass viele Länder in der Dritten Welt zu „weit entfernt vom Meer“ lägen und daher unter Verkehrsbedingungen litten, die für den Welthandel ungeeignet seien. Da der Regionaltransport zu Lande siebenmal teurer sei als der Seeweg, müsse die Verkehrsinfrastruktur massiv entwickelt werden. Räumlich benachteiligt seien die Tropen überdies durch das Klima: Im gleichförmigen eurasischen Raum hätten landwirtschaftliche Innovationen „weite Strecken“ zurücklegen können, so sei eine „große Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten“ entstanden. Die Tropen mit schnell wechselnden Klimazonen mussten dies durch eine Intensivierung agrartechnischer Forschung ausgleichen. Die Dritte Welt müsse „raus aus der Falle des Raumes“.

Was Neoliberale nie erwähnen: Der internationale Handel wird mit 300 Milliarden Dollar subventioniert

Hatten aber die Schweiz oder Österreich schwere Entwicklungsnachteile, weil sie mehr als 100 Kilometer vom Meer liegen, was bei Hausmann zu Wachstumsnachteilen von 0,6 Prozent führt? Sind Hessen, Bayern und Baden-Württemberg gegenüber den Küstenländern strukturell benachteiligt? Warum blühen die meerumschlungenen Inselstaaten Indonesien und Philippinen nicht viel stärker auf als etwa Indien, wo endlos weite Transportwege über Land zu überwinden sind? Wenn schon das Transportproblem thematisiert wird, was nicht generell von der Hand zu weisen ist: warum dann kein Wort über die steuerliche Diskriminierung des Landtransports, dessen Energiekosten in allen Ländern besteuert werden, während Flug- und Schiffstreibstoffe weltweit von Abgaben befreit sind? Damit wird nicht nur der Flug- und Schiffstransport gegenüber dem Straßen- und Eisenbahntransport privilegiert, sondern auch der Globalhandel gegenüber dem Regionalhandel. Faktisch bedeutet das eine Subventionierung des internationalen Handels mit jährlich etwa 300 Milliarden Dollar. Dies wird von allen Theoretikern der Globalisierung notorisch ignoriert, obwohl es allen Prinzipien der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgleichheit widerspricht. Hochgradig ideologisch setzen sie die Unternehmensinteressen der Global Players mit den Interessen der Volkswirtschaften gleich.

Die Raumtheorie Hausmanns steigert sich zum Quatsch. Seine drei Paradebeispiele für ökonomischen Erfolg in den Tropen – Brunei, Hongkong, Singapur – verdanken dies wohl kaum ihrer Verkehrslage. Brunei verfügt vielmehr über Öl, und Hongkong und Singapur wurden aufgrund spezieller historischer Entwicklungen zu attraktiven ökonomischen Enklaven. Dabei handelt es sich um genau jene geografisch kleinen Länder, denen Hausmann ansonsten wenig Entwicklungschancen einräumt, u. a. weil sie sich kostspieligen Katastrophenschutz allein nicht leisten könnten. Dass vor allem die fossile Energieorgie der Ersten Welt die sich häufenden Naturkatastrophen verursacht, bleibt – sonst passt ja die neoliberale westliche Vorbildfunktion nicht mehr – selbstverständlich unerwähnt. Die Raumtheorie fällt schließlich ins Bodenlose, indem der Nordhälfte die größere Pflanzenvielfalt zugesprochen wird. Dabei dominieren dort moderne Monokulturen, und die tropische Hemisphäre verfügt generell über die unendlich reichere Biodiversität.

Zwar ist schon bis in den Economist nachzulesen, dass wirtschaftliches Wachstum keine Wohlstandsgarantie ist. Längst ist ermittelt, dass die Global Players in der Dritten Welt zwar große Gewinne einfahren, aber die dortigen Volkswirtschaften davon immer weniger haben. Nicht einmal die Globalisierung des Agrarhandels nützt der Dritten Welt, sondern führt nur dazu, dass auf unsere Agrarkonzerne zugeschnittene Erzeugerstrukturen entstehen – mit der wahrscheinlichen Folge, dass in den nächsten 20 Jahren mehr als eine Milliarde Kleinbauernfamilien ihre wirtschaftliche Existenz verlieren und den Weg in die Slums von Kalkutta bis Mexiko-Stadt antreten. Immer deutlicher wird, dass Kleinkredite für Kleinbetriebe, die auf lokalen und regionalen Märkten operieren, die Entwicklungskatastrophe in der Dritten Welt vielleicht abwenden können – keinesfalls aber der schnelle Sprung in unser Wachstumsmodell, in das die Industrieländer in mehr als 100 Jahren hineinwuchsen.

All diese Erkenntnisse werden von der neoliberalen Globalisierungsökonomie wie einst in den 50er- und 60er-Jahren verdrängt – ganz zu schweigen von den Erkenntnissen über die notwendige Revitalisierung regionaler Wirtschaftskreisläufe aus globalökologischen Gründen. Stattdessen sollen Rückfälle in die reaktionäre Gedankenwelt der Geopolitik der modernen Wirtschaftswissenschaft aus ihren Erklärungsnöten helfen. So ist es für Hausmann zwar nicht mehr der allzu sonnenverwöhnte faule Neger selbst, unter dem die Produktivität leidet, sondern es sind die gemeinen Moskitos und Viren in der tropischen „Raumlage“.

Hatten etwa die Schweiz oder Österreich Entwicklungsnachteile, weil sie nicht am Meer liegen?

Das Weltbild, mit mikroökonomischer Orientierung die Makroprobleme der Weltwirtschaft lösen zu wollen, ist brüchig geworden. Also müssen Raum und Natur als Hindernisse herhalten, um das Globalisierungs-Credo zu retten. Doch die Dritte Welt ist nicht in der Falle ihres Raumes, sondern in der der neoliberalen Heilslehre. Diese steht schon so im fundamentalistischen Abseits, dass ihre Protagonisten nicht mehr hören, wie schrill die Realität als Schiedsrichter pfeift.

HERMANN SCHEER