Adonisse auf Anafranil

Allein im Jahr 1998 gaben US-amerikanische Männer mehr als zwei Milliarden Dollar für Mitgliedschaften in Fitnessstudios aus, mehr als weitere zwei Milliarden Dollar für Heimtrainingsausrüstungen wie Gewichtmaschinen, Laufbänder und anderes. Zu diesen Milliarden rechnen die Autoren des soeben auf Deutsch erschienenen Buches „Der Adonis-Komplex“ noch die Milliarden, „die für Nahrungsergänzungsmittel ausgegeben werden, die Muskeln aufbauen oder Fett verbrennen sollen. „Eine gewaltige Industrie“, so die Autoren, „verhökert Proteinprodukte, Aminosäuren, ‚Fatburner‘, Vitaminpräparate, Mineralien und andere, exotischere Substanzen.“ Vor dreißig Jahren habe es diese Industrie, die von der Essstörung gesprächsverklemmter Männer profitiert, noch nicht gegeben.

Das Buch bringt vor allem in einem Punkt neues Licht in die Debatte über die Essstörungen, die bislang fast ausschließlich als „Frauenkrankheit“ bewertet wurden. Es macht deutlich, dass Männer, bedingt durch ihre körperliche Disposition, von der Magersucht, die auch immer mehr jugendliche Männer prägt, auf die Form der „Muskeldysmorphie“ umsteigen können und dadurch scheinbar einen Ausweg aus ihrer Essstörung gefunden haben. Diese Männer sind nicht mehr auf ihren dünnen, sondern auf ihren muskulösen Körper fixiert. Sie ernähren sich mit extrem fettarmer, proteinreicher Nahrung, selbst wenn sie schrecklichen Hunger leiden. Welche Formen diese männliche Essstörung annehmen können, schildern die Autoren in drastischen Beispielen.

„Ein Mann aus New Hampshire namens Steve erzählte uns, dass er sich mit siebzehn Jahren, als er 1,68 Meter groß war, auf vierzig Kilo herunterhungerte. Um seinen achtzehnten Geburtstag herum entdeckte Steve das Gewichtstraining für sich. Binnen sechs Monaten war er auf 65 Kilo, aber dann fand er, dass er zu schmächtig wirkte. Er begann Anabolika zu nehmen und nahm weiter zu. Aber jetzt, so gestand uns Steve, machte er sich Sorgen, zu viel Fett und zu wenig Muskeln zu haben – so große Sorgen, dass er sich kürzlich eine Zeit lang geweigert hatte, sich mit seiner Freundin außerhalb des Hauses sehen zu lassen.“ Ein anderer Mann, so die Autoren, „küsste zwei Wochen vor einem Bodybuildingwettkampf seine Freundin nicht ein Mal, aus Furcht, sie könnte ihm durch ihren Speichel Kalorien zuführen.“

Das Buch beschreibt viele Symptome. Wo allerdings nach Ursachen gesucht wird, ist die Ausbeute mager: Es sei der wachsende Druck „unserer Gesellschaft auf Männer, schlank und muskulös zu wirken“. Als Alternative zum Adoniskomplex empfiehlt das Buch „kognitive Verhaltenstherapie“ statt Gesprächstherapie, worüber sich die Krankenkassen sicher freuen – und Antidepressiva. „In den Vereinigten Staaten“, heißt es dort, „gehören Prozac, Paxil, Luvox, Zolft oder Celexa zu dieser Gruppe von Arzneimitteln. Ein weiteres wirksames Antidepressivum aus einer anderen chemischen Familie ist Anafranil.“ Ob die Autoren für diese Liste wohl Provision von der Pharmaindustrie bekommen?

Andere, neue Wege aus der Essstörung geht der Münchner Verein ANAD (www.Anad.de). In Wohngemeinschaften, deren Bewohner den Kontakt nach außen (Stadt, Arbeit, Schule) nicht unterbrechen müssen, können Betroffene ihre Beziehungsfähigkeit zu anderen Menschen erlernen.

JÜRGEN MEIER

Harrison G. Pope, Katharine A. Phillips und Roberto Olivardia: „Der Adonis-Komplex“. Schönheitswahn und Körperkult bei Männern. Aus dem Amerikanischen von Susanne Althoetmar-Smarczyk. München 2001, dtv premium, 357 Seiten, 30 Mark