Symbiosen in der Bergwüste

Viele Touristen haben sich noch nicht ins Siroua-Gebirge verirrt, nichts gesehen vom Leben der Berber mit der Natur. Ein Roadmovie ohne Auto

von PETRA WELZEL

Wie kommt eigentlich der Strand in die Berge? Eine Stunde lang klebe ich schon an Youness’ Fersen und trete ihm manchmal auch rein, wenn ich meinen Blick über die Wüste um mich herumschweifen lasse. In ein Tal, durch das der Wind den Sand auf 1.200 Meter heraufjagt. Es ist eine „halbe Sahara“, sagt Youness. Weil auf Weitsicht die Berge rechts, links, vor und hinter uns in der grellen Sonne wie mächtige Sanddünen erscheinen, später im rotblauen Abendlicht wie aufgeschüttete Daunenbetten zum Hineinkuscheln. Wenn die Dämmerung Kanten, Felsen und vereinzelte Büschel weichzeichnet. Die letzte grüne Oase liegt schon Kilometer zurück, die nächste ist noch lange nicht in Sicht. Ich sehe nichts als feinen Sand, auf dem man am Meer das Badetuch ausbreiten würde. Über Steine stolpere ich, wenn ich nicht geradeaus schaue, sondern meine Augen an einer bizarren braunen Distel hängengeblieben sind.

Es ist gut, an Youness’ Hacken zu kleben. Er ist der Führer unseres Gänsemarschs durch diese unwirtliche und doch anziehende Landschaft des Siroua-Gebirges im südlichen Atlas von Marokko, die bisher nur selten von Wanderern durchmessen wird. Er weiß genau, wann wir im Sand oder am Berg eine Links- oder Rechtskehre schlagen müssen, wenn die Esel- oder Ziegenpfade unvermittelt abbrechen. Keine Kotspur weist dann mehr den Weg zum nächsten Bach oder Berberdorf. Dort, wo abends unsere Mulis befreit von Gepäckbergen aus Ausrüstung und Verpflegung rasten und wir unsere Zelte aufschlagen.

Himmel und Erde

Vier Tage Aufstieg zum Gipfel auf 3.305 Meter Höhe liegen vor unserer zehnköpfigen Trekkinggruppe. Eine Nacht in Ouarzazate hinter uns. Der Filmstadt, wo sich die Atlas-Studios hinter wehrartigen Mauern der Berberburgen verbergen. Von Holly- bis Bollywood sind wegen des Lichts und Wetters – nur Sonne, nie Regen – alle großen Filmproduktionen regelmäßig vor Ort. Rund 60 Kilometer entfernt in den sandigen Bergen fühle ich mich wie eine Statistin in Bertoluccis „Der Himmel über der Wüste“, die Schritt für Schritt mit der Naturkulisse und den übrigen Darstellern eine Symbiose eingeht.

Unsere Begleitmannschaft mit den Mulis überholt uns kurz vorm nächsten Berberdorf, in dessen Nähe wir lagern werden. Die Sonne ist mittlerweile fast hinter den Bergen abgesoffen und taucht Himmel und Luft in ein orangefarbenes Licht, das dem Safran gleicht, der überall auf Terrassenfeldern angebaut wird. Am teuersten Gewürz der Welt verdienen die Bauern, die die Krokusse mit den blutorangenen Fäden ziehen, am wenigsten. Kinder laufen uns nach und fragen lauthals nach Stiften, wahlweise auch nach Bonbons oder Geld. Bis wir unseren Platz am ausgetrockneten Flussbett zwischen Schilf und Sand erreichen und die plötzlich hereinbrechende Nacht sie schluckt.

Die Stille des Gebirges hat uns wieder. Nur die Gaslampen zischen, und die Mulis mahlen schmatzend auf ihrem Getreide rum. Garantiert ohne Tiermehl, alles pure Natur hier. Erst ein rappelvolles Taxi, das zwischen unserem Klozelt und Essplatz auf Bastmatten mit lauter Musik durchjuckelt, holt uns ins 21. Jahrhundert zurück. Es ist der Beginn eines Roadmovies, in dem Autos erst wieder in vier Tagen eine Rolle spielen werden. Bis dahin passieren nur noch unsere Füße die jahrtausendealten, ausgetretenen, aber auch verschwundenen Pfade und Wege der Berber.

Die erste Etappe am nächsten Vormittag meint es gut mit uns. Wenig Steigungen, die Landschaft bleibt karstig, sandig und geröllig. Schluchten wie aus Karl-May-Filmen wechseln sich mit Bergkämmen ab, die man sich so auf dem Mond vorstellt. Auf den ersten Blick leblos, doch je länger das Auge über dem steinigen Gelände kreist, entdeckt es hier und da den grünen Trieb eines kugeligen Dornengestrüpps. Nach vier Stunden solchen Wegs biegen wir um die Ecke einer Bergkuppe und stehen vor den Baumhainen einer blühenden Dorfoase. Und ich frage mich jetzt, wie das Wasser ausgerechnet in diese immerhin 1.400 Meter hoch gelegene Wüste kommt. Schließlich haben zwei Drittel der Menschen auf dem Land und in den Bergen Marokkos bis heute keine direkte Trinkwasserversorgung. Und geregnet hat es seit Jahren nur Tropfen. Dass die Berber hier zu den 87 Prozent ohne Stromversorgung in der Statistik zählen, ist offensichtlich. Strommasten gibt es nicht, und verkabelt ist auch niemand.

Die drei Mohammeds

Die Errungenschaften der Moderne haben mit Batterien von einer Pferdestärke Einzug gehalten. Sonderabfallbehälter für die kleinen, leeren Bleizylinder freilich nicht. Und eine Apotheke, die sie zurücknehmen würde, existiert natürlich auch nicht. 93 Prozent der Landbevölkerung lebt nämlich auch ohne medizinische Versorgung. Es sind schwer beladene Esel wie unsere, die die auf Gassen und Pfaden entsorgten Batterien im Laufe der Zeit dem Erdboden gleichmachen.

Nur wenige Schritte hinter dem Dorf im Schatten eines Olivenhains am Ufer eines ausgetrockneten Flussbettes wartet Hassan, der Küchenchef unserer Begleitmannschaft, mit einer riesigen Salat- und Nudelplatte auf uns. Mohrrüben, Tomaten, Zwiebeln, Paprika, Oliven und Thunfisch vertreiben das Loch aus dem Bauch und die nachhaltigen Überlegungen aus dem Sinn. Nur die Kinder, die sich ans andere Ufer gehockt haben, bohren sich uns anstarrend tiefer ins Gemüt. Tausende von ihnen fliehen statistisch aus der dörflichen Armut, um doch nur in den Slums der großen Städte zu stranden.

Ich schließe mich nach der Rast Mohammed und Mohammed an. Etwa jeder dritte Marokkaner heißt so. Auch in unserer Begleitmannschaft von neun Männern gibt es drei Mohammeds. Jene beiden sind Anfang zwanzig und die Jüngsten unter den Mulitreibern, die ansonsten, abgesehen von Hassan, alle die 60 schon hinter sich gelassen haben. Mohammed und Mohammed sind in ihrem Dorf geblieben, weil sie mit den Trekkingtouren ein Auskommen haben. Ein ausreichendes, sagen sie.

Der Weg wird steiler. Die beiden singen Berberlieder und lachen, wenn sie mal nicht weiter wissen. Ihre Esel sind müde von der schweren Last. Manchmal zittern ihre dünnen, x-beinigen Hinterläufe unter dem Gewicht, als drohten sie zu brechen. Doch dann öffnet sich nur ihr After, und eine Gaswolke entweicht deutlich hör- und riechbar. Mit frischen Eselsäpfeln markieren sie anschließend den Pfad neu, der sich jetzt immer enger werdend in Serpentinen den Berg hochschlängelt. Flache Steine am Wegrand sehen wie Radierplatten aus, an die ein Kalligraf Hand angelegt hat. Und riesige Felsblöcke, als hätte sie ein Bildhauer bearbeitet. Geballte Fäuste mit erhobenem Daumen drohen, Köpfe mit markanten Nasen neigen sich uns zu.

Unter Berbermädchen

Hinter ihnen ziehen sich die Mädchen aus dem Dorf, vor dessen Toren wir die Nacht über kampieren, schützend zurück. Aus sicherer Distanz lachen sie sich darüber in ihre Fäustchen, wie wir uns notdürftig aus Kanistern Wasser schöpfend Gesicht, Hände und Füße waschen. Bis auch sie sich mit Einbruch der Dunkelheit und plötzlicher Kälte wieder in die Häuser des Dorfes verziehen. Diese haben hier oben auf über 2.000 Meter Höhe die Farbe der roten Erde von der Region um Ouarzazate und Marrakesch verloren. Mit ihren hohen Mauern, Zinnenkränzen und ineinander verschachtelt im selben schmutzigen Grau der Berge wirken sie wie aus dem Stein gehauene Bunker.

Tags drauf sehen wir nicht einmal mehr ein Dorf, als wir auf 2.700 Metern mitten in einer von einem Bergbach geteilten Schafweide unsere Zelte aufbauen. Wie immer waren wir um 7.30 Uhr aufgebrochen. Der Muezzin hatte schon zum Gebet gerufen und dann zu einer Beerdigung. Im Dorf trafen wir die Trauergemeinde, die nur aus männlichen Mitgliedern der Dorffamilien bestand. In einer weißen, offenen Holzkiste hatten sie den Toten gerade zum Friedhof gebracht. Und lägen die Gesichter der Männer nicht frei unter ihren Zipfelmützenumhängen, machten sie den Eindruck, sich zu einer Klu-Klux-Klan-Verschwörung versammeln zu wollen.

Stunden später und weit hinter dem Dorf hausen wir hingegen in einer arkadischen Schäferidylle. Die Maultiere galoppieren frei herum, die drei Mohammeds backen frisches Brot in einem selbst gebauten Steinofen, und neugierige Schäfer spielen auf ihren Flöten Lieder. Selbst Kondensstreifen von Flugzeugen, die man nicht hört, deutet man als Vorboten der Milchstraße, die sich ins nächtliche Firmament am sternenklaren Himmel ergießt. Nicht einmal mehr die Temperaturen, die nachts unter den Gefrierpunkt fallen, trüben die Aussichten. Die Mohammeds stehen das schließlich alles in Sandalen durch. Und morgen ist Gipfeltag.

Auf dem Zuckerhut

Rio de Janeiro hat bekanntlich einen Zuckerhut, und Alkohol fließt dort reichlich. Der Gipfel des Siroua-Gebirges hat zwei Zuckerhüte, von denen wir den höheren waghalsig ohne Netz und nur an zwei Stellen mit Seil gesichert erklimmen. Nach 50 Kilometern Anmarsch drängeln wir uns 3.305 Meter hoch auf etwa 3,3 Meter im Durchmesser. Grappa macht die Runde, und die Blicke wandern zu den schneebedeckten Kuppen des Hohen Atlas hinüber. „Schneekoppe“, klingelt’s im Ohr.

Noch einmal übernachten wir in einem Berberdorf, das nur in den frostfreien Monaten von März bis Oktober bewohnt wird. Hassan hat extra ein Lamm für uns schlachten lassen und mit Bohnengemüse und Backpflaumen zubereitet. Es gibt immer noch nur uns, die Berber und die Berge. Einer profitiert vom anderen. An Youness’ Fersen habe ich mich gewöhnt. Und er sich an meine Tritte. Als uns anderntags am Endpunkt drei Jeeps abholen, um uns nach Marrakesch zu bringen, sitzt Youness neben mir. Hacke an Hacke. In Marrakesch wartet die nächste Gruppe auf ihn. Er wird mit ihr in seine „halbe Sahara“ zurückkehren, und sie wird die Bergwüste lieben lernen. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.

Eine 15-tägige Trekkingtour „Gipfel und Nomaden“, die das 5-tägige Trekking im Siroua-Gebirge einschließt, veranstaltet: Hauser Exkursionen International, Marienstr. 17, 8 03 31 München, Tel.: 0 89/ 23 50 06-0, Fax: 0 89/ 2 91 37 14, e-mail: hauser@hauser-exkursionen.de