Kämpfer an der unsichtbaren Front

„Temporäre Amnesie“ oder Wenn alles weg ist: Der stellvertretende „Bild“-Chef Klaus-Dieter Kimmel, seine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR und „Verdrängungspraktiken“. Eine deutsch-deutsche Mediengeschichte

von HANS-JOACHIM FÖLLER

Die Launen des Gedächtnisses spielten Klaus-Dieter Kimmel in seinem Leben schon so manchen Streich. An guten Tagen kann es geschehen, dass der frühere Chef der DDR-Zeitung Deutsches Sportecho ganze „Ergebnistabellen von lange zurückliegenden Fußballspielen runterbetet“, berichten Kollegen ehrfürchtig. An schlechten Tagen, bei denen es sich oft um seine langjährige inoffizielle Stasi-Tätigkeit dreht, ist der für die neuen Länder verantwortliche stellvertretende Chefredakteur der Bild-Zeitung alias IM „Fuchs“ alias IM „Martin Meinel“ jedoch auf die Hilfe von Zeitzeugen angewiesen.

Ende April wurde Kimmel von einem dieser Schübe temporärer Amnesie heimgesucht. Offenbar hatte er davon erfahren, dass einige Journalisten bei Recherchen zu seiner Vergangenheit Kontakt zu einem seiner ehemaligen Opfer aufgenommen hatten. Glücklicherweise fiel Kimmel genau in diesen Tagen der Name des Mannes ein, über den er Mitte der 70er-Jahre dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) berichtet hatte. Dabei handelt es sich um den ehemaligen Ostberliner Korrespondenten der Rheinischen Post, Klaus Heinemann. Kimmel suchte ihn in Düsseldorf auf und legte ein volles Geständnis seiner Erinnerungsprobleme ab. „Meine Frage, warum er auch zehn Jahre nach der Wende geschwiegen hat, konnte er mir nicht beantworten“, sagt Heinemann. Das sei alles weg gewesen, habe Kimmel gesagt. Der Süddeutschen Zeitung hatte der stellvertretende Bild-Chef mitgeteilt, dass er seine „Verdrängungspraxis erschreckend“ findet. Heinemann glaubt davon kein Wort: „Wie kann das sein? Sie sind doch gezielt auf mich angesetzt und trainiert worden“, fragte er seinen einstigen Duzfreund, der als „Fuchs“ 1974 präzise über den Pfeife rauchenden, Whisky trinkenden Westjournalisten und dessen politische Einstellung berichtet hatte. Von seinem Führungsoffizier erhielt „Fuchs“ den Auftrag, besonders darauf zu achten, was Heinemann über „aktuelle politische Probleme und Ereignisse äußert, welche Beziehungen er zu anderen DDR-Bürgern unterhält“, insbesondere zur ostdeutschen Verwandtschaft des Westkorrespondenten. Auch für den Fall, dass Heinemann ihn der Zusammenarbeit mit dem MfS verdächtigen sollte, erhielt IM „Fuchs“ genaue Anweisungen, die er laut Aktenlage „dankbar“ annahm.

Das MfS informierte „Fuchs“ unter anderem über Heinemanns Cousine und ihre zwei Söhne. Das hatte Folgen. Heinemann: „Die Verwandten wurden im Beruf kaltgestellt.“ Den Schluss, dass zwischen der Berichterstattung von „Fuchs“ und den beruflichen Schwierigkeiten ein Zusammenhang besteht, habe auch Kimmel in dem Gespräch gezogen. Mit Tränen in den Augen habe der stellvertretende Bild-Chef ihn gefragt, wie er das wieder gutmachen könne – und damit das Gegenteil davon eingeräumt, was er gegenüber seinem Arbeitgeber in einer Ehrenerklärung versichert hatte: „Dass er während seiner früheren Stasi-Tätigkeit nie Informationen über Personen gegeben habe, die diesen Schaden zugefügt haben“, wie der Springer-Verlag mitteilt. Nachdem Kimmel, der im November 1999 seinen Bild-Posten hatte abgeben müssen, allerdings vom neuen Bild-Chef Kai Diekmann im April dieses Jahres zurückgeholt worden war, will Diekmann diese Aussage nun nochmal prüfen lassen.

Zwar vermied es Kimmel nach einer Stasi-Beurteilung „Personen aus seinem Kollegen-, Sportler und Umgangskreis zu belasten“, doch galt dies für andere Menschen nicht. Das MfS hielt fest: „ ‚Fuchs‘ ist uneingeschränkt bereit, Personen zu bearbeiten, die eine feindliche Haltung zur DDR haben und aus dem kapitalistischen Ausland sind, einschließlich Westberlin und BRD.“ So verriet der IM, der über den Realsozialismus selbst oft schimpfte, mehrere DDR-Bürger, die sich gegenüber westdeutschen Medien negativ zur Lage im Land geäußert haben. Folge: Das MfS leitete Maßnahmen zur Identifizierung der Personen ein. Für die „staatsfeindliche Nachrichtenübermittlung“ konnten mehrjährige Haftstrafen verhängt werden.

Daneben lieferte Kimmel wertvolle Informationen zur Einschätzung der ausländischen Journalistenszene in Ostberlin, unter anderem über den Bild-Kolumnisten Lothar Loewe, damals ARD-Korrespondent in der DDR, und über Hintergrundgespräche, die der ständige Vertreter der Bundesrepublik, Günter Gaus, mit westdeutschen Korrespondenten geführt hat.

Die Zusammenarbeit des SED-Genossen Kimmel mit der Stasi endet vorübergehend laut Schlussbericht des MfS, weil dieser seine Dienste „als lästig betrachtet und seine beruflichen Aufgaben in den Vordergrund stellt“. Das MfS leitet den Abbruch der IM-Tätigkeit ein. Kimmel wird 1977 entpflichtet.

Elf Jahre später, 1988, heuert Kimmel erneut als Kämpfer an der unsichtbaren Front an. Nach den Akten der Gauck-Behörde führte ihn die für Medien und Kultur zuständige MfS-Abteilung XX bis zur Wende. Aus dieser Zeit sind allerdings nur die handschriftliche Verpflichtungserklärung und die Karteikarten erhalten, jedoch keine Berichte.

Seinem heutigen Arbeitgeber versichert Kimmel nun, „dass er diese Verpflichtung bereits nach wenigen Wochen wieder rückgängig gemacht habe“, wie es in einer Pressemitteilung des Springer-Verlages heißt. Laut Expertenurteil aus der Gauck-Behörde ist das falsch: „Die entsprechenden Eintragungen in der Akte fehlen. Weder findet sich dort ein Beschluss zur Archivierung, noch über den Abbruch der Mitarbeit.“

Die Tatsache, dass die Tendenz der Bild-Ausgaben der neuen Länder durch einen ehemaligen Stasi-Spitzel und SED-Propagandisten bestimmt wird, beschäftigt auch Opfer der SED-Diktatur. In einem gemeinsamen Brief, der unter anderem vom Bund Stalinistisch Verfolgter, der Vereinigung Help und dem Bürgerkomitee Leipzig unterzeichnet worden ist, protestierten die Unterzeichner beim Springer-Verlag unter anderem mit dem Hinweis, dass Kimmel Informationen von strafrechtlicher Relevanz geliefert habe.