„Verschluckt im Schlund des Manta-Rochens“

Alle wichtigen Meldungen, die Staatskunst betreffend: Die Eröffnung des Bundeskanzleramts wurde ausführlich von der Presse begleitet. Eine Collage

von STEFAN WIRNER

Zitiert wurde aus folgenden Zeitungen: „Berliner Morgenpost“, „Berliner Kurier“, „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Der Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“, „Die Welt“

Die Schaltzentrale der Macht ist eröffnet. Ab heute: Regieren in der Waschmaschine. Bezeichnung: Kanzleramt. Funktion: Machtzentrale. Umzug geschafft: Kanzler residiert im Kohlosseum. Das Auge des Kanzlers ruht über der Stadt. Es ist ein großes Auge, es ist ein stoisches Auge, seit geraumer Zeit bereits. Es ist ein großes Auge, ein monumentales Auge. Es ist das Kanzleramts-Auge. Im Spreebogen ist ein weißer Tanker gestrandet. Was nur wenige Berliner wissen, obwohl die Berliner Republik über das Kanzleramt natürlich längst alles weiß.

Darf man von einer Stunde null sprechen? Bisher richtete sich die Politik in den aufpolierten Schwermutshöhlen der deutschen Geschichte ein. Mit Gerhard Schröders Einzug in das neue Kanzleramt ist die Republik endgültig in Berlin angekommen. Deutschland zeigt hier seine wiedergewonnene Größe und ist zugleich peinlich berührt davon. Es ist nicht leicht, den Deutschen ein Kanzleramt zu bauen. Der Mann, der einzieht, ist nicht jener, der den Auftrag gab. In einer Demokratie kann das passieren. Schröders ungeliebtes Haus steht da, wo Hitler einst seine gigantomanische Weltmetropole planen ließ. Im Spreebogen kann man gar nicht vergesslich sein. Dieses Gelände ist geradezu imprägniert mit Gift, historischem Gift. Ohne eine gewisse Größe lassen sich solche Raumwunder nicht herstellen, das ist auch im Kanzleramt zu sehen. Und das ist ein Problem, zumindest in Deutschland. Die Deutschen haben Angst vor allem, vor allem haben sie Angst vor der Größe. Die Deutschen haben Angst – vor sich selbst und vor den anderen. Angst vor dem Risiko, vor dem Neuen, vor jeder Herausforderung.

Die Deutschen kommen in ihrem Nationalstaat an und sind doch nur auf der Durchreise. Das Misstrauen wird zur Marotte. Das Misstrauen gegen eine selbstbewusste, große, profilierte Architektur der Macht wurzelt in der deutschen Geschichte, wirkt inzwischen aber ziemlich abgestanden. Berlin ist nun auf lange Zeit die Hauptstadt Deutschlands, eines der führenden Länder Europas und der Welt. Das neue Kanzleramt gibt dem wiedergewonnenen deutschen Nationalstaat mit großer Geste einen zentralen Ort der politischen Macht in einer Zeit, in der die politische Macht des Nationalstaats verschwindet.

Der Haupteingang zum Kanzlertrakt mit den beiden nach vorne gezogenen Seitenflügeln verschluckt den Besucher wie der Schlund eines Manta-Rochens. Und wie das, was der Meeresriese mit seinem Maul aus dem Wasser seiht, fühlt man sich auch: Klein wie Plankton nehmen sich die Menschen aus, die durch diese Öffnung strömen, hinein in das 14 Meter hohe Foyer und auf eine Freitreppe zu, die von einer riesigen Betonwelle überspannt wird. Die größte Regierungszentrale der Welt ist viermal größer als das Weiße Haus. Downing Street 10 oder das Haus des niederländischen Premiers können bequem in den Seitenflügeln Platz finden.

Die Macht hat also wieder einen festen Aggregatzustand. Gut gelaunt in die Waschmaschine. Durch die Fenster blickt der Regierungschef Richtung Tiergarten und auf den Reichstag. Das neue Kanzleramt symbolisiert ein anderes Machtverhältnis: Hier sitzt der Herrscher in seinem Turm, dort das in folgsame Fraktionen zersplitterte Parlament, dem das Volk aufs Haupt steigen darf. Was dem wiedervereinigten Deutschland eher angemessen ist, wird die Geschichte erweisen. Schon ist von einer „Berliner Staatskunst“ die Rede, womit nicht nur die Regierungsbauten und ihre üppige Ausstattung mit moderner Kunst gemeint sind, sondern überhaupt eine für die Bundesrepublik neuartige Hauptstadtkultur. Wenn der Kanzler Staatsgästen oder der Presse entgegenschreitet, von seinen hängenden Gärten hinabsteigt, über theatralische Treppenrampen und durch fantastische Wandschwingungen, dann wird dieses Babylon in Beton die Bilder eines neuen Deutschland in die Welt tragen. Schickt es sich für eine Demokratie, ein Machtzentrum zu haben, und darf man es sogar zeigen? Wieso soll sich das größer gewordene Deutschland nicht selbstbewusst präsentieren? Wieso soll unser Kanzleramt nicht das Pathos der Macht signalisieren? Ist die Stilistik der Bescheidenheit auch die der Adäquanz? Will das Deutschland, das sich seine ganze lange Bonner Zeit politisch-staatlich mit einer Geschäftsstelle zufrieden gab – und deshalb über allerlei heimliche Hauptstädte verfügte –, überhaupt eine wirkliche Hauptstadt?

Der Bonner Geist der Transparenz und des Unfertigen, dargestellt durch Stahl, Glas und Interimslösungen, war schon bald nach dem Regierungsumzug verflogen – nun ist der neue Wind in Zement gegossen. Das ist für die deutsche Demokratie etwas Neues: Ein Bau ohne Piefigkeit. Das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur eigenen Größe verändert sich in Berlin. Gegen das rheinische Biedermeier der alten Bundesrepublik, gegen seine Sehnsucht nach Konsens und Gemütlichkeit wirkt die schrille Metropole natürlich vulgär. In der Vulgarität aber, in der Unterordnung des Erkennens unter das Wollen, liegt zugleich eine große Faszination.

Ohne den strahlenden Sonnenschein hätte das Kanzleramt vielleicht einen ganz anderen Eindruck gemacht am Mittwoch bei seiner offiziellen Eröffnung. So aber flutete Licht durch die großen Fenster in die Wintergärten, die Lobbys und die Büros. Die hellen Mauern wirkten plötzlich italienisch elegant, und angenehm durchwärmt konnte man durch den großen Garten gehen. Es ist ein weiches Gebilde, ein Fest der bewegten Räumlichkeit, ein Angebot an Befreiung. Ein Mitarbeiter des Lagezentrums hält die Büros für demokratisch angelegt. Denn ihre Größe richtet sich nicht nach dem Dienstrang, sondern sei mit zwanzig Quadratmetern für alle gleich.

Die rituell bejammerte Politikverdrossenheit, die Entpolitisierung einer ganzen Generation hat auch etwas mit der Unsichtbarwerdung der Politik zu tun, dem Verschwinden der Macht: Wer nicht weiß, wohin er ziehen soll, bleibt lieber zu Hause. Schon deswegen wäre es wichtig, dass einige Demonstrationen auch direkt vor dem Kanzleramt stattfinden dürfen – als symbolische Geste, als Zeichen dafür, dass sich der Staat den Bürgern stellt. Acht Zentimeter dickes Panzerglas schützt den Bundeskanzler vor Anschlägen. Besonders abgesichert ist das vierte Stockwerk, in dem sich Räume für den Krisenstab und das Lagezentrum befinden. Dort laufen aktuell alle wichtigen Meldungen ein, die die Sicherheit betreffen.

Chaoten greifen Kanzleramt an. Auch das neue Kanzleramt in Tiergarten ist ein Ziel gewaltbereiter „linker Chaoten“ – das befürchtet zumindest Innensenator Eckart Werthebach. Wenn die Maikrawalle toben und das neue Kanzleramt den Kleinmütigen zu groß erscheint, dann sind sie wieder da, die kollektiven Vorbehalte gegen das große Fratzen-Berlin mit der dunklen Geschichte. Nun sind Hauptstädte immer Inhaltsverzeichnisse ihrer Völker, Berlin aber gilt vielen nur als Narbenregister und Infektionsherd der Nation. Das neue Haus steht da als Frage. Befleckte Reinheit, Zerstörung der wahren Intention – all das spielt hinein. All das trägt bei zu einem Mythos, zu einem beschädigten Ursprungsmythos ausgerechnet bei einem Haus, aus dem heraus Politik gemacht und gelegentlich Geschichte geschrieben werden soll.

Wir wollten eine Anregung für Staatsathleten. Wir beziehen nicht Sanssouci oder Neuschwanstein. Von hier aus wird nicht geherrscht, sondern regiert. Weiter haben wir es noch nicht gebracht. Bis dahin, immerhin, schon. Hinter dem Jammern sitzt jede Menge Freude über das, was wir geschafft haben. Die Republik muss sich wichtig nehmen.

Heißt das, der Kanzler ist die Lichtgestalt der Demokratie? Da grübeln wir über Fragen, die uns die anderen gar nicht erst stellen. Die Frage ist doch selbst schon die Angst. Was hier gebaut wurde, verweist ins 21. Jahrhundert. Das Kanzleramt ist die Visitenkarte der Bundesrepublik. Also: An die Arbeit.