Die Spaltung der Söhne

Eine Vivisektion: Mit dem Roman „Die Reise“ schrieb Bernward Vesper das Porträt seiner Generation. Vor 30 Jahren nahm er sich das Leben. Sechs Jahre später, im Deutschen Herbst, erschien sein Buch

von MARTIN ZEYN

Bernward Vesper ist ein Ein-Buch-Autor. Als von ihm 1977 „Die Reise“ erschien, war er nahezu unbekannt. Dennoch verkaufte sich der unvollendete autobiografische Roman innerhalb eines Jahres 40.000 Male. Ein Lebensbericht aus der APO, ein rares Beispiel von german underground, eine Kifferbibel – das Buch passte in die Zeit. Beim Erscheinen war Vesper allerdings schon sechs Jahre tot.

Im Roman beschreibt der 1938 geborene Vesper seine Drogenerfahrungen, die Loslösung vom Vater und die Beziehung zu Gudrun Ensslin, mit der er sich 1962 verlobt hatte. Klaus Wagenbach, der die beiden 1965 im Wahlkontor sozialdemokratischer Schriftsteller kennen gelernt hatte, spricht von einem „fast sadomasochistischen Verhältnis“ und beobachtete: „Gudrun Ensslin strahlte fast, wenn sie hart angefasst wurde.“

Ein Buch seiner Generation soll es werden. Doch Vespers Resümee der 68er fällt ernüchternd aus: „Die ‚Bewegung‘ vertauscht nur das Ziel, ist zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht in der Lage. Sie opfert schlimmstenfalls unsere Generation. Aber es geht jetzt darum, die Freiheit hier zu beginnen, d. h. das Ich zu entwickeln. Das ist alles.“

Im Deutschen Herbst 1977 mögen solche Zeilen die Zweifel an der RAF genährt haben. Vesper hatte mit Gudrun Ensslin ein Kind, er war mit Ulrike Meinhof in Rom gewesen, und nach Auskunft des März-Verlegers Jörg Schröder, der das Romanfragment editiert hat, verbirgt sich hinter einer Person des Romans Andreas Baader.

„Die Reise“ war Vespers Beitrag zur Revolution – zu einer echten, erarbeiteten, lustvolleren. Als Mittel zur Veränderung der Welt propagierte er das Tanzen, den Rausch und vor allem das Schreiben. Ziemlich Seventies, möchte man einwenden. Doch Vesper warf einen genaueren Blick auf die eigene Biografie, als damals opportun war. Geschulte Kader warnten beständig vor dem schwächlichen, apolitischen „Subjektivismus“, Rigorismus stand hoch im Kurs. Anfangs trifft Vesper noch den Ton der Zeit: „Die Generation, die Hitler bejahte, wird vielleicht in die Geschichte eingehen als das erste Beispiel einer bis dahin für unmöglich gehaltenen Massenschizophrenie: hier die Familienszene, die außerdienstliche Gemütseinfalt, dort das Henkergeschäft“, schrieb er 1964.

Der Vater Will Vesper war zwar kein Henker, aber schon vor 1933 und bis zu seinem Tod 1962 ein bekennender Nationalsozialist. Der „Hauslyriker der Nazis“ (Friedhelm Rathjen) kombinierte dumpfen und sadistischen Protestantismus mit fader Naturlyrik. Er war ein Denunziant von Buchhändlern, die Publikationen „judenfreundlicher“ Verlage offerierten, ein Auschwitz-Leugner, ein Vorgestriger.

„Die Reise“ beginnt denn auch mit einer pauschalen Abkanzelung der Elterngeneration. Bernward beschreibt sie als „Vegetables“, Kraut, das irgendwie wächst. Aber je weiter der Roman voranschreitet, desto klarer wird, wie sehr Vesper um die Liebe des Vaters wirbt. Diese Sehnsucht kulminiert in einer berühmten Szene des Romans. Nach einer Hepatitisinfektion liegt Bernward Vesper wochenlang im Krankenhaus, er verlernt das Gehen und Sprechen. Sein besorgter, sichtlich gealterter Vater besucht ihn: „Ich starrte ihn an. War er es, der krank geworden war? Wie konnte ein Mensch in so kurzer Zeit so verfallen? Und zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass mein Vater mich lieben könnte. Nach wenigen Minuten ging er wieder.“

Der Roman protokolliert den Verrat des Vaters, der sich als großer Schriftsteller, politischer Kopf und Vertreter eines ewig-göttlichen (Der-Vater-hat-immer-)Rechts aufspielt. Im Auftrag des Vaters hatte Bernward als Jugendlicher Plakate für die rechte Deutsche Reichspartei geklebt. Der Roman gibt schonungslos darüber Auskunft, wie lange er die nationalsozialistischen Phrasen des Vaters nachplappert. Noch 1962 gibt Vesper zusammen mit Ensslin Gedichte aus dessen Nachlass im Selbstverlag heraus. Die Loslösung wird zu einer schmerzhaften Vivisektion. Der APO-Jargon erleichtert das Kaschieren des Schmerzes, hilft aber nur vordergründig. KD Wolff, damals Lektor beim März Verlag, beschrieb die Spaltung der Söhne so: „Man konnte nicht sagen, mein Vater ist ein Nazi und ich liebe ihn trotzdem und finde sogar sein literarisches Werk bewahrenswert.“

Nach der Herausgabe der Schriften von Wilhelm Reich, mit der er noch einmal versuchte, Einfluss auf die APO zu nehmen, zieht Vesper sich aus dem politisch-literarischen Leben zurück. Seine Beziehungen zu Frauen sind oberflächlich, die endlich vorhandene sexuelle Freiheit beschreibt (und nutzt?) er fast missmutig mit linkssexistischem „Grobianismus“ (Theweleit). Allein die Drogen scheinen die ersehnte Befreiung leisten zu können. Das Protokoll seines ersten LSD-Trips schwelgt in Farben und Korrespondenzen, Vesper nutzt den Münchner Hofgarten zu einer psychedelisch-romantischen Wahrnehmungsexplosion. Die Begeisterung für diese endlich vaterlosen Erfahrungen macht ihn taub für Einwände. Berliner Ärzte bitten ihn, vor den Suchtgefahren harter Drogen zu warnen. Er doziert, die negativen Auswirkungen seien ausschließlich die Folge gesellschaftlicher Missstände.

Eine Widmung des Buches an Stokely Carmichael lautet: „Go home, kill father and mother, hang up yourself.“ „Die Reise“ ist eine Vivisektion mit tödlichen Folgen. Im Februar 1971 zertrümmert er im Drogenrausch die Wohnung von Münchner Freunden. Er wird in die Psychiatrie eingeliefert, Freunde sorgen dafür, dass er nach Hamburg verlegt wird. Dort nimmt sich Bernward Vesper mit 32 Jahren das Leben.

Ein Porträt des Autors heute auf Radio Bayern 2 um 22.05 Uhr