„Ich dachte nur: zurückschlagen“

Tung D. kam vor 5 Jahren aus Vietnam nach Bernsdorf. In der sächsischen Kleinstadt musste sich der Junge laufend rassistische Sprüche anhören. Als er geschlagen wurde, stach er zu. Heute beginnt in Bautzen der Prozess gegen den 15-Jährigen

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Mit einer Kundgebung unter dem Motto „Rassistische Normalität angreifen“ wollen heute Morgen in Bautzen Antifagruppen auf den beginnenden Prozess gegen den Vietnamesen Tung D. aufmerksam machen. Der 15-Jährige hatte am 9. Dezember 2000 auf dem Weihnachtsmarkt im sächsischen Bernsdorf einen 21-jährigen Rechten erstochen und einen 20-jährigen schwer verletzt. Nachdem sie ihn zusammen mit einem Dritten zwanzig Minuten lang angepöbelt, beleidigt und geschlagen hatten, holte Tung D.von zu Hause zwei Küchenmesser, rannte ihnen hinterher und stach zu.

Die Anklage wirft dem 15-Jährigen, der seitdem in Untersuchungshaft sitzt, Körperverletzung und Totschlag vor. Das höchste Strafmaß, das er nach dem Jugendstrafrecht zu erwarten hat, beträgt zehn Jahre. Bei seiner Vernehmung bestritt Tung D. eine Tötungsabsicht. Wegen seines Alters findet der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das Urteil soll am Freitag verkündet werden.

Einen Tag nach den tödlichen Messerstichen hatten Tungs Eltern und drei andere vietnamesischen Familien aus Angst vor Racheakten die 5.500 Einwohner zählende Stadt verlassen.

Matthias F., der an den Stichverletzungen starb, war wegen gefährlicher Körperverletzung und dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorbestraft. Er war als Rechter bekannt, doch auch als „feiner Kerl“, weil er akzeptierte, dass er auf dem Sportplatz T-Shirts wie an seinem Todestag – „Rudolf Hess – Märtyrer für Deutschland“ – nicht tragen durfte. Als Märtyrer wurde er zu Grabe getragen, an der Stelle, wo er starb, erinnerten wochenlang rechte Sprüche an seinen Tod.

Tung D. lebt seit fünf Jahren in Deutschland. Seine Mutter kam 1987 als Vertragsarbeiterin in die DDR und holte 1996 ihren Mann und ihren Sohn nach. Anfangs war Tung D. aufgrund der fremden Umgebung und Sprache völlig isoliert. Bald attestierten ihm Lehrer Lernfortschritte und beschrieben ihn als höflich und hilfsbereit. Doch die Eingewöhnung fiel ihm schwer, zumal sein Vater mit ihm zweimal für jeweils sechs Monate nach Vietnam zurückkehrte. Tung D. wäre am liebsten dort geblieben. Die Eltern glaubten jedoch, dass er hier eine bessere Zukunft habe.

Fast täglich wurde Tung D. mit Sprüchen wie „Fidschis raus“ angemacht. Seine Eltern verlangten von ihm, „die schlechten Worte“ zu ignorieren, so wie sie es taten. Ihre Begründung: „Weil wir Ausländer sind.“ Fünf Jahre verhielt sich Tung D. so unauffällig wie seine Eltern.

Vorwürfe eines 16-jährigen Bernsdorfers, der ausgesagt hatte, einmal von Tung D. mit einem Messer bedroht worden zu sein, stellten sich später als Erfindung heraus. Dieser 16-Jährige war Ende März daran beteiligt, als eine Gruppe Jugendlicher versuchte, zwei Angolaner aus einem fahrenden Zug zu werfen.

Zwei Gutachter haben Tung D.untersucht. Während der erste ihm Schuldunfähigkeit attestiert, da er im Affekt gehandelt habe, sieht der zweite Gutachter eine eingeschränkte Schuldfähigkeit. Der Alltagsrassismus und die hohen Anforderungen in der Schule hätten zu einer permanenten Belastung geführt.

Tung D.s Anwältin Petra Schlagenhauf sagt, dass seine Tat vor dem Hintergrund „massiver Provokationen und eines rassistisch motivierten körperlichen Angriffs“ zu sehen sei. Im Untersuchungsgefängnis sagte Tung D. gegenüber der taz: „Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich dachte nur: zurückschlagen.“