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Neue Bücher kurz besprochen

von Kolja Mensing

MUSIK

Harland Miller: „Ziggy Hero“. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Nagel & Kimche, Zürich 2001, 318 Seiten, 35 DM

„Es wurde jeder mögliche Versuch unternommen, alle Copyright-Inhaber ausfindig zu machen“, ist auf der Rückseite des Titelblattes von „Ziggy Hero“ zu lesen, „sollten uns Fehler oder Auslassungen unterlaufen sein, setzen Sie bitte den Verlag hiervon in Kenntnis.“ Die Liste der Belegstellen, die sich auf Popsongs der 70er- und 80er-Jahre beziehen, ist lang: Wer wie Harland Miller in seinem Roman zwei Jahre einer Jugend mit den Titeln aus Hitparaden, Musikboxen und Schallplattensammlungen vervollständigen will, braucht Platz.

Das, was man von behördlicher Seite unter einem Lebenslauf versteht, fällt dagegen meist kürzer aus. „Alles in allem hatten wir etwa vierzig Sekunden gebraucht, um meine Schulabschlüsse, frühere Jobs, Interessen und Hobbys durchzugehen“, fasst Kid Glover seinen letzten Besuch im Arbeitsamt zusammen. „Ziggy Hero“ spielt im Jahr 1980, in dem in England immer mehr Minen geschlossen werden und der unterkühlte Sound des New Wave endgültig Glamour und Punk verdrängt hat. Von allen Versprechen der 70er-Jahre ist in der Stadt in Yorkshire, in der Kid Glover und Freunde leben, nichts geblieben. Stattdessen herrscht die große Leere: „The feeling has gone“ singen Ultravox in diesem Jahr in „Vienna“. (Der Song fehlt in den Copyright-Verweisen.)

Zwischen Arbeitsamt, billigen Pubs und besetzten Häusern bleibt Kid und den anderen viel Raum, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sumo, bisexuell und übergewichtig, verbringt die meiste Zeit im Bett, Paul möchte lieber Paula sein und tanzt in Frauenkleidern zu „Nights in White Satin“ von Moody Blues, und Kid selbst hat trotz längerer Drogenabstinenz die ersten Halluzinationen. Der Einzige, der sich entschließt, konsequent nicht mehr er selbst zu sein, sondern einfach nur ein Zitat, ist Arthur. Er ist David-Bowie-Fan, ahmt die Posen der Plattencover nach und nennt sich zuerst Ziggy Hero und dann – in einer neuen Phase – nach einem anderen Albumtitel Ziggy Low. Besser ein Lebenslauf aus zweiter Hand als gar keiner.

Auch Popstars selbst sollen sich ja dieser Sehnsucht, ein anderer zu sein, ab und zu hingeben. Jarvis Cocker, der als Sänger der britischen Band Pulp zu einiger Berühmtheit gelangte, ist mit Harland Miller befreundet und hat sich an seine Jugendjahre als Filmstudent erinnert. Für die Verfilmung von „Ziggy Hero“ hat er sich als Regisseur angeboten.

SEX

Ryu Murakami: „69“. Aus dem Amerikanischen von Andrea Viala. Verlagshaus No. 8, Wetzlar 2000. 176 Seiten, 26 DM

1969 kommt es in Tokio zu Studentenunruhen. Im Rest des Landes ist die Revolution allerdings bisher nur in Form von marxistischen Diskussionszirkeln und Folkkonzerten angekommen. Davon hat der siebzehnjährige Kensuke Yazaki, genannt Ken, bereits genug: „Wenn du in einer Stadt mit einer amerikanischen Militärbasis wohnst, merkst du, wie reich und mächtig Amerika ist. Ein Oberschüler, der jeden Tag das Dröhnen der Phantom-Jets hört, muss kein Genie sein, um zu merken, dass Folksongs singen genauso viel bringt wie Furzen.“ Ken möchte Action, keine Aktionen. Er überredet ein paar Freunde, mit ihm zu zusammen die Schule ihrer Kleinstadt zu besetzen. Allerdings möchte er damit nicht den gesellschaftlichen Umbruch beschleunigen, sondern einfach ein Mädchen beeindrucken: „Das hier war für Kazuko Matsui. Bambi, mein kleines Reh, liebte Männer, die für die Sache kämpfen.“

„69“ heißt dieser Roman des japanischen Schriftstellers und Filmemachers Ryu Murakami. Genauso wie sein etwa gleich alter und in Deutschland bekannterer Namensvetter Haruki Murakami hat er als Teenager in den 60er-Jahren erlebt, wie das kulturelle Vakuum Japans nach dem Zweiten Weltkrieg mit europäischen und amerikanischen Importen gefüllt wurde. Jetzt teilen sich beide Murakamis die Schwierigkeiten, die mit dem Export japanischer Kulturgüter einhergehen. Ryu Murakamis Romane konnte man bisher zum Beispiel, wenn überhaupt, nur auf Englisch lesen. Mit „69“ wird er jetzt ins Deutsche übertragen, aber auch das nur aus der amerikanischen Übersetzung – und so etwas kann ja, wie man im Fall Haruki Murakami gemerkt hat, schnell zu Missverständnissen führen. Zum ersten Mal hört man in Deutschland allerdings nicht von Ryu Murakami. 1991 kam sein Film „Tokio Dekadenz“ in die Kinos. Er erzählt in einem Apartment hoch über dem Lichtermeer der großen Stadt die traurige Geschichte einer auf Sadomasochismus spezialisierten Prostituierten. Es war einer der ersten Filme, in denen die Kritik hierzulande beinahe schadenfroh ein Negativbild des technologisch und wirtschaftlich erfolgreichen Landes Japan erkennen wollte. Auch der durchaus komische Roman „69“ erzählt natürlich nicht von der Begründung einer neuen und freieren Gesellschaft, sondern vom gründlichen Scheitern des Individuums gegenüber der beständigen Macht des Kollektivs. Nur dass Ryu Murakami inzwischen auf einer Internetseite erotische Bildchen vertreibt, passt nicht so recht in dieses ideologiekritische Interpretationsmuster: „If adult material offends you ... go away.“ So ganz einfach erschließt sich einem die japanische Kultur eben doch nicht.

COMICS

Julia Altmann: „Zu Besuch bei Meister Hokusai in Japan“. Prestel, München 2001. 28 Seiten, 24,90 DM

Die Statistik ist eindrucksvoll. Der japanische Maler und Holzschnitzer Katsushika Hokusai hat in siebzig Jahren mehr als 30.000 Blätter gestaltet, 500 Bücher illustriert, 93-mal seinen Wohnort gewechselt und 20-mal seinen Namen geändert.

Die Arbeiten Hokusais, der 1760 als Nakamura Hachiemon geboren wurde, zeigen die Natur in ständiger Bewegung. Wolken treiben vor einem dramatisch blauen Himmel, Wellen türmen sich haushoch, während der Berg Fuji im Hintergrund zu einem Hügel schrumpft – oder ein kleiner Vogel ist kurz davor, sich todesmutig aus einem Kirschbaum stürzen: action painting, nach der Natur gemalt. Gerade erst habe er angefangen, „die Tiere, Gräser und Bäume, die Vögel, Fische und Insekten“ zu begreifen, schrieb Hokusai im Alter von 73 Jahren. „Mit 80 Jahren werde ich es noch besser können und mit 90 in die Geheimnisse der Dinge eindringen. Mit hundert werde ich so weit sein, dass Punkt und Linie leben.“

Knapp hundert Jahre später erwachten Punkt und Linie tatsächlich zum Leben. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen in Japan die ersten Comicstrips, die der Zeichner Rakuten Kitazawa „Mangas“ nannte. Mit diesem Wort, das von nun an die japanische Variante der Comics bezeichnete, hatte einst Hokusai seine Arbeiten bezeichnet. Es heißt wörtlich so viel wie „verzerrte Bilder“ oder „unzuverlässige Bilder“, und in vielen der Illustrationen Hokusais ähneln die Menschen in ihrer überzeichneten Physiognomie tatsächlich Comic-Figuren.

Julia Altmann hat nun aus den detailverliebten Zeichungen, Gemälden und Drucken des Künstlers kein Manga, sondern ein Bilderbuch zusammengesetzt: „Zu Besuch bei Meister Hokusai in Japan“. Kiku und Yoshi besuchen ihren Großvater Hokusai in seinem Atelier, und wie es sich für ein ordentliches Kinderbuch gehört, darf der Leser bei diesem Besuch mit dabei sein und sogar etwas lernen.

In diesem Fall nimmt man Einblick in die japanische Alltagskultur. Obendrein erfährt man dann im Text noch einmal, was auf den Bildern eigentlich ohnehin schon zu sehen ist – als ob man den schönen, aber eben „unzuverlässigen Bildern“ Hokusais auch heute noch nicht so recht trauen kann.

INTERNET

Nika Bertram: „Der Kahuna Modus“. Eichborn.Berlin, Frankfurt am Main 2001. 330 Seiten, 39,80 DM

Nika Bertrams Roman „Der Kahuna Modus“ ist eins der Bücher, die mit so vielen Andeutungen und Querverweisen arbeiten, dass man ihnen beständig im Internet und anderen Archiven nachgehen möchte. Das beginnt mit dem Titel.

Die Fast-Food-Kette „Big Kahuna Burgers“ ist nicht nur Teil des bekannten Dialogs zwischen dem Killer Jules und seinem Opfer am Anfang von „Pulp Fiction“, sondern fester Bestandteil sämtlicher Drehbücher Quentin Tarantinos, von „Reservoir Dogs“ über „Natural Born Killers“ bis zu „From Dusk Till Dawn“. Im Roman stößt man zunächst auf ein mageres „Kahuna-Sandwich“ und etwas später auf einen vereinzelten, immerhin mit Ratten belegten Burger besagter Kette. Spätestens wenn man das erste Mal dreißig Seiten zurück- und dann wieder zehn nach vorn blättert, sieht man in dem Titel allerdings einen Verweis auf die verschlungene Erzählweise der Tarantino-Filme – oder vielleicht auch auf das vielschichtige Bewusstseinsmodell der hawaiischen Kahuna-Religion, das Nika Bertram auf ihrer eigenen Homepage vorstellt: „Der Kahuna Modus“ erzählt die wechselvolle Geschichte der Comiczeichnerin Nadine in einer großzügigen und mehrfach unterbrochenen Spiralbewegung.

Eines Morgens geht Nadine ins Bad, schaut in den Spiegel und sieht „einen ansehnlichen, ein wenig unerfahrenen, verwirrt und schüchtern blickenden Jüngling“ vor sich. Es sei nichts Ungewöhnliches, nur ein Geschlechtswechsel, erklärt Nadine ihrer Freundin und Lebensgefährtin Susan. So wird, mit Virginia Woolf gesprochen, Orlando zu Orlanda, doch der eigentliche Klassiker im Hintergrund ist David Bowie. „Ch-ch-ch-ch-changes“ lautet eine der aus Songzeilen zusammengesetzten Kapitelüberschriften. (Noch ist mir das mit den Popzitaten in Romanen nicht langweilig geworden. Time may change me ...)

Es kommt zu weiteren Verwandlungen, Tiergestalten eingeschlossen, und weil Nadine eine sich selbst erzeugende Romanfigur ist, die sich für einen Verleger in Satansgestalt buchstäblich selbst zu Ende schreiben soll, wird es ein wenig unübersichtlich – trotz der großflächigen Illustrationen der Comiczeichnerin und Malerin L. G. X. Lillian Mousli. Ihre kleinen Monster ziehen sich durch das ganze Buch, und man erschrickt jedes Mal wieder, wenn man sie sieht. Nadine war ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der Teufel Wert auf einen Text im herkömmlichen Sinne lege: „All das populäre Zeug! Kino, Comics, Musik ... und nichts ist mehr, wie es einmal war.“

POP

Thomas Ernst: „Popliteratur“ (Rotbuch 3000) Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg 2001. 95 Seiten, 16,90 DM

„I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked ...“

(Allen Ginsberg, Howl, 1957)

Der Hamburger Rotbuch Verlag hat sich einem enzyklopädischen Projekt verschrieben. Unter dem Reihentitel „Rotbuch 3000“ erscheinen kurze Einführungen in gegenwärtige Themen wie „Gentechnologie“ oder „New Economy“. Auch für die „Popliteratur“ fand sich ein Platz zwischen „Polizei“ und „Popmusik“. „Die junge deutsche Literatur war in den letzten Jahren sehr erfolgreich. Immer wieder wird dafür auch die Popliteratur verantwortlich gemacht“, schreibt Thomas Ernst gleich zu Beginn und fasst den eigentlichen Skandal, der eine Einführung wie seine unbedingt nötig macht, in einem einzigen Satz zusammen: „Kritiker, Leser und Autoren streiten über deren Sinn und Qualität, ohne jedoch zu sagen, was Popliteratur eigentlich ist.“

Es folgt ein kurzer kunst- und literarhistorischer Abriss von Dada und Beat Generation über Andy Warhol, Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte bis zu Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre. Besonders engagiert gerät dem Autor der letzte Teil seiner Einführung. Er stellt fest, dass sich in den 90er-Jahren hinter der Popliteratur vor allem „junge Autoren, flotte Sprache und hippe Themen verbargen“ und der Begriff „nur noch dazu diente, den Buchverkauf anzukurbeln“. So sieht der 1974 geborene Enzyklopädist Thomas Ernst die besten Köpfe seiner Generation zerstört vom Wahnsinn Popliteratur, ausgemergelt, hysterisch und nackt, dem schnöden Mammon hinterherlaufen. Seine Einführung beschließt er mit der Warnung, dass die Literatur, wenn sie auf diesem Wege weitermache, sich zuletzt als „Anhängsel einer totalen Unterhaltungsindustrie selbst auflösen wird“. Schon schlimm, wenn man dem Kulturverfall bereits in so jungen Jahren ins Auge sehen muss.

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