Nichts passt. Alles stimmt

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

Eigentlich lassen sie uns in Ruhe, doch sie übersehen uns so konsequent, dass es etwas von Missachtung hat

„Trotzdem versuche ich immer noch Ordnung in meine Gedanken zu bringen und aus dem Verworrenen ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.“ Der Maler Ernst Ludwig Kirchner um 1916

Wir wussten, dass wir ein Gemälde aus vergangenen Tagen betreten würden, als wir auf die Lindenterrasse zusteuerten. Von Max Liebermann in Hamburg an der Elbe 1903 gemalt. Bereits damals waren die Linden auf dieser Terrasse nicht mehr jung, jedenfalls nach menschlichem Ermessen, aber für Bäume schon, und inzwischen wohl bald 150 Jahre alt. Ihren Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode haben sich die Menschen von den Bäumen abgeguckt, die im Winter wie tot dastehen und im Frühjahr sich neu beleben; diese Linden, hoch über der Elbe. Sie leben einfach weiter.

Geradeso wie die Geschichte der Menschen, die geht auch immer weiter, annonciert Der Spiegel im ganzen Land. Seine Botschaft heißt: Deutschlands Vergangenheit werde die Gegenwart der Zukunft sein. Diese Beschwörung illustrieren farbige Plakate und Titelseiten, wie sie jeder Nazi gern über sein Bett hängen wird. Man spürt die Begierde nach Unausweichlichem, mit der in der Redaktion montiert wurde: Vor dem Brandenburger Tor Fahnen schwingende rechtsterroristische Jugend, dahinter aufsteigend Adolf Hitler, staatsmännisch. Sogar der Führer wäre mit dem Chefredakteur und seinen Spiegel-Mannen zufrieden gewesen.

Davon noch 30 Jahre entfernt, hatte der Jude Max Liebermann die zu einem Blätterdach verschlungenen Baumkronen in frühsommerlicher Luft gemalt, beschwert nur mit der Süße des Lindenblütenduftes, hoch über dem Fluss, und nichts von dem fauligen Mief von unten, wie er stinken kann, nach totem Leben.

Vom Innern des Hotels, durch die großen Fenster und Glastüren, zeigte sich die Lindenterrasse an diesem Sonnabend in einer Weise besetzt, dass ich zunächst dachte, wir dürften sie nicht betreten. Herren in grauem Gehrock und kanariengelber Weste machten Front nebeneinander und gegeneinander. Damen unter großen Hüten, in sehr langen oder ganz kurzen Kleidern, lächelten zum Angriff; einige hochschwanger, andere magersüchtig, dass ihnen die Schulterblätter durch das rohseidene Kostümjäckchen stachen. Ein Hochzeitsempfang im Mai 2001. Für ihn waren zwei Drittel der Lindenterrasse reserviert.

Wir setzten uns ins dritte Drittel, und zwar so, dass wir auf die Elbe wie auch auf die Gesellschaft bequem sehen konnten, dazu bestellten wir Tee und Apfelkuchen. Alle auf unserer Seite machten es so. Man sah auf die Reichen, denn Geld mussten sie haben, wenn sie sich das hier an der Elbchaussee bei Louis C. Jacob, Hotel und Restaurant, leisten konnten. Zwischen ihnen und uns war eine Abgrenzung, eine dicke Schnur, knietief gehängt, leicht zu überwinden und wirksam wie eine Wand.

Wir kommentierten, was wir sahen, verhalten zunächst, bald ganz ungeniert, denn sie sahen nur sich, und folglich würden sie uns nicht hören, obgleich keine zwei Meter uns trennten. Nicht ein Blick von ihnen fiel auf uns Leute. Eigentlich ließen sie uns völlig in Ruhe, doch übersahen sie uns so konsequent, dass es etwas von Missachtung hatte. Auf unserer Seite war man wenigstens gegen sie.

Das Paar an unserem Tisch, zwei Männer, beide schwul, der eine mit Ohrring, der andere von zwanghafter Selbstkontrolle, starrte gebannt auf den hochgeschäumten Protz hinter der Trennkordel: Jungunternehmer mit Börsenrausch, nächste Woche im Konkurs, übernächste Woche unter einem neuen Label. Bieder lauernd die Männer, standesgemäß frivol die Frauen an ihrer Seite, denn zu jedem Mann gehörte eine Frau, und jede dieser Frauen hatte die Aufgabe, ihn und immer nur ihn anzusehen, wenn er zu anderen Männern sprach. Zwischendurch konnten sie sich frei bewegen.

Der Bräutigam tauchte am Weinausschank auf. Dass er der Bräutigam war, verriet außer dem kleinen Myrtesträußchen in seinem linken Knopfloch sein verschlagener Blick, mit dem er Weinflaschen und Personal überflog. Seit heute durfte er es machen wie sein Vater, er war nun selbst Hausherr geworden, trat leise auf, dabei das gelbliche Gesicht mit dem spitz zulaufenden, flachen Hinterkopf ein wenig zur Seite neigend, das Ergebnis dauerhaft schlechter Körperhaltung, alt geboren und wahrscheinlich der einzige Repräsentant wahrhaft hamburgischen Wirtschaftsadels in der Meute seiner Gäste.

Der Braut taten die Füße weh. Der Vater der Braut mit Drittgattin hatte sich übers Buffet gebeugt und inspizierte, seine Brille zur Stirn anhebend, mit darunter hervorhechelndem Blick die Weinmarken. Erdbeertorte kam. Man sagte aaahhh. Das gehörte dazu.

Eine Frau gab der Bedienung Anweisungen. Hartes Gesicht unter lackschwarzem Hut, am Zeigefinger knappste Anweisungen: Davon! Ein Glas! – Dann zum Kind neben ihr: Hier. Lass fallen. Wär schade drum. – Von wem hatte die das? Von ihrem Urgroßvater, dem Korvettenkapitän? Von ihrem Großvater, dem SS-Offizier? Von ihrem Vater, dem Beamten im Auswärtigen Dienst?

Als einer von ihnen langsam seitlich gegen uns ein Bein hob, die Trennkordel überschritt, sein Handy am Ohr, den Blick auf die Schuhe gesenkt, da war es deutlich: Sie durften unseren Boden betreten, während wir ihnen dabei zuguckten. Er kam, um sich bei uns abzutelefonieren.

Die Kinder konnten mehr. Ein zweijähriger Matrose von drüben lief zwischen unseren Tischen herum, den Blick seiner Mutter im Rücken, die schon wieder schwanger war. Sie gefiel sich in ihrer Fruchtbarkeit. Träge ließ sie ihr Männchen gewähren.

Der Bräutigam: gelbliche Gestalt, schlechte Körperhaltung, alt geboren – also Hamburger Wirtschaftsadel

Von unserer Seite mischte sich ein Geschwisterpaar drüben unter die Hochzeitsgäste. Blonde Schulkinder, die streng zurückgepfiffen wurden. Die Tochter, eigene Bedeutung suchend, eilte herbei und wurde dafür nicht beachtet, der Sohn kam verschleppend. Ein blonder Vater beugte sich gegen ihn hinunter, aggressiv mit schmalem Blick und angelegten Ohren, als hätte der Junge von dort, von den Senkrechtstartern, etwas mitgenommen und nun bei sich, was ihm, dem Vater, Angst machte.

Unser Apfelkuchen kam, ein Stück von der Größe einer Postkarte für sechs Mark. Er schmeckte nach Blei und Glitsch, war vor Tagen gebacken und mehrfach aufgetaut worden. Das Männerpaar hatte ihn mit Sahne bekommen, Sahne aus der Spritzdose.

Eine versehentlich gelandete Ringeltaube warf drüben ein paar leer stehende Gläser um. Die Ersten gingen. Ein sich beim Sprechen mit Luft aufpumpender Mann entließ, zwischen Wortsilben aufstoßend, seinen Atem in das Gesicht seines Zuhörers als Ausdruck eigener Bedeutung. Sonst passierte nichts. Kein aufsteigendes Lachen, kein anschwellendes Reden, kein Ausdruck von Freude entstieg ihren Hüllen.

Darüber die ineinander verschlungenen Lindenkronen vor einem der schönsten Ausblicke Hamburgs. Den Kuchen konnten wir zurückgehen lassen. Der Ober entschuldigte sich und servierte weitere Portionen davon am Nebentisch. Nichts passte zusammen. Alles stimmte. Unter uns, in der Elbe, ging die Kultur gerade den Bach hinunter.