Kurzsichtigkeit absichern

Vier Personen auf der Suche nach einem Autor: Die Kanonisierung von Raymond Carver heute abend live im Literaturhaus  ■ Von Volker Hummel

Judith Hermann erinnert sich noch an den Moment, als sie zum ersten Mal über Raymond Carver sprach. Es war in der Wohnung eines Journalisten, der sie nach ihren Vorbildern fragte. „Wenn ich zurückdenke an diesen Nachmittag in Frankfurt Ä...Ü, so war es vor allem meine Eitelkeit, diese nach Bestätigung meines außergewöhnlichen Literaturgeschmacks suchende Eitelkeit, aber auch mein Alleinesein, mein Einsamsein mit Carver, das mich auf die Frage nach meinen Vorbildern dann doch seinen Namen sagen ließ.“

In ihrem Vorwort zu Kathedrale, nach Würdest du bitte endlich still sein, bitte und Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden der dritte Band der Neuausgabe der Erzählungen Carvers im Berlin Verlag, beschreibt sie diese Offenbarung wie eine Erbsünde, die ihr fortan die Rückkehr in die unreflektierte Nähe zu einem ihrer literarischen Götter verwehrte. „Es war wie ein Verrat. Auf die Vorbilder-Frage antworte ich nun immer und mit der Routine des schlechten Gewissens: Carver.“

Inzwischen gehören die paradiesischen Zustände des Exklusivumgangs mit dem Werk Raymond Carvers ein für alle Mal der Vergangenheit an. Seit einem Jahr weiß auch der flüchtigste Feuilletonleser um die heroische Schlacht des Autors mit dem Alkohol, mit seinem Lektor Gordon Lish und mit der Sprache. Man weiß, dass der Mann ein Meister der Verknappung und Auslassung war, dessen Schilderungen brüchiger amerikanischer Existenzen die Schule des Minimalismus begründeten.

Solche retrospektiven Wiederbelebungen sind Standard im Feld der literarischen Öffentlichkeit, die sich immer wieder ihres eigenen guten Geschmacks versichern muss. Wiederholungen sind da unvermeidlich, und so wird es schon zum Klischee, wenn Hermann über die Geschichten Carvers schreibt: „Sie zielen nicht auf das Sicht- und Nennbare, sondern auf das Undurchsichtige, Unaussprechliche, auf das, was geradezu resistent gegen das Lösungsmittel der Worte ist.“ Es ist natürlich immer erbaulich, einen Autor von seinen literarischen Vorbildern schwärmen zu hören. Es ist auch zu erwarten, dass das literarische Quartett des heutigen Abends – neben Judith Hermann sind noch der Übersetzer Helmut Frielinghaus, der Literaturkritiker Reinhard Baumgart und der Verleger Arnulf Conradi anwesend – intelligentere Worte zu Carver finden wird als sein gediegenes ZDF-Pendant. Interessanter als die geballte Aufmerksamkeit, die Carvers Werk zurzeit erfährt, ist aber das, was sie verdeckt. In den letzten 15 Jahren ist in den USA eine neue Generation junger AutorInnen herangewachsen, die sich von der Tradition des Minimalismus, der Repräsentation individueller Schicksale befreit hat. Autoren wie David Foster Wallace, Richard Powers und William T. Vollmann schreiben eine expansive Literatur, die sich formal, geografisch und disziplinär an keine Grenzen mehr hält. Dass man sie hier zu Lande nicht kennt, liegt vor allem daran, dass sie bisher kaum übersetzt worden sind. Völlig untergegangen ist auch die Übersetzung von Richard Powers Galatea 2.2, die vor vier Jahren erschienen ist, in der sich Powers an eine aufregende Auseinandersetzung mit moderner Wissenschaft wagt. Die Schilderung der „Erziehung“ einer künstlichen Intelligenz und damit einhergehende Reflexionen über das Wesen von Sprache, Erinnerung und Identität bedienen sich harter Fakten der Kognitionswissenschaft.

Der gegenüber dem Original um fünf Erzählungen gekürzte Band Kleines Mädchen mit komischen Haaren von David Foster Wallace, der dieses Frühjahr kaum beachtet auf dem Markt erschienen ist, bedient sich vielfältigster Formen, um das Leben in einer medial zugerichteten Welt zu ergründen. In Zeiten, in denen der neue Roman von Don DeLillo den einen immer noch als „Literatur für Fortgeschrittene“ gilt (Harald Schmidt), den anderen als „langweilig“ (Schmidt-Parodist Marcel Reich-Ranicki), sind solche Wahrnehmungslücken nicht verwunderlich.

Hoch im Kurs sind simple Storys über deutschen Alltag, Reflexionen über Privates und kleine poppige Sprachgebärden. Da bietet sich Carver als ideale Referenzfigur an, um die eigene Kurzsichtigkeit literarisch abzusichern. Wer den Exklusivumgang mit neuerer amerikanischer Literatur pflegt, muss sich mit seiner Vertreibung aus dem Paradies wohl noch einige Zeit gedulden.

Abend über Raymond Carver mit Judith Hermann, Reinhard Baumgart, Helmut Frielinghaus und Arnulf Conradi, heute, 17.5., Literaturhaus, 20.00 Uhr