Die Welt nicht nur interpretiert

Fritz Boeck, selbst Philosoph in der DDR, befragt in seinem Film „Das Philosophentreffen“ die Verlierer der Geschichte

„An der Idee ist ja im Kern viel Gutes gewesen“ – ein Gemeinplatz, der in keiner Diskussion über Aufstieg und Untergang der DDR fehlen darf. Für Ideen sind seit alters her die Philosophen zuständig. In den 50er-Jahren gab es an der Berliner Humboldt-Universität eine Generation junger Philosophiestudenten, die die Welt nicht immer nur interpretieren wollten, sondern denen es darauf ankam, sie zu verändern. Als dann 1989 ein Teil der Welt die Laune hatte, sich selbst zu verändern, standen die Philosophen doof da.

Ist es die Idee gewesen oder doch wieder nur das alte Philosophenleiden, über dem schon Marx ein grauer Bart gewachsen ist? 40 Jahre haben sie sich abgemüht, dem ersten sozialistischen Experiment auf deutschem Boden einen philosophischen Überbau zu verschaffen, und dann das. Bisschen peinlich, oder? Fritz Boeck, Jahrgang 35 und selbst diplomierter Philosoph der Humboldt-Universität, hat einige seiner früheren Mitstreiter danach befragt, wie es sich so lebt als offizielle Verlierer der Geschichte. „Philosophentreffen“ heißt sein Film, der mit einem Kaffeekränzchen im Karl-Liebknecht-Haus beginnt, in einer Gartenlaube in Thüringen endet und nun einem graumelierten Publikum in den Hackeschen Höfen präsentiert wurde.

Wie bei jedem Klassentreffen geht es um frühere Ideale und darum, was daraus geworden ist. Die hier Versammelten hat der Weltgeist, respektive Zeitgeist jedoch in eine besondere Zwickmühle gebracht: Sie können sich nicht darauf hinausreden, die Welt nur interpretiert zu haben, aber verändert haben sie sie auch nicht. Ihr Problem ist das Gleiche, das nach 1989 alle hatten, die an die DDR geglaubt haben. Nur möchte man von Philosophen glauben, sie hätten es doch besser wissen müssen.

Nun sitzen sie also da mit ihren Nachwendebiografien und haben Glück, dass sie in einem Alter sind, in dem es sich ohne Illusionen leben lässt, wie es Lothar Läsker formuliert. Ihm gehört die Gartenlaube in Thüringen. Während Boeck ihn befragt, bemühen sich Kamera und Bildschnitt um die ländliche Idylle, als wollten sie beweisen, dass auf das Ende der Illusionen nicht das Purgatorium folgt. Keinen der Befragten scheint es übel erwischt zu haben. Böses denkt jedoch, wer Läsker die Landidylle nicht gönnt oder dem Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg den Cappuccino neidet, in dessen Milchhäubchen die eine oder andere unangenehme Frage weich landet. Aber Fritz Boeck ist mit seiner Biografie ohnehin zu nah dran, als dass seine Fragen wirklich kompromittierend sein könnten. Einige brauchen diese Intimität, um überhaupt die Selbstkritik zu wagen. Anderen geht das Bedürfnis nach Rechtfertigung gänzlich ab. Horst Wessel etwa, Professor für Logik, hat keine Gewissensprobleme. Er ist der einzige der sechs Interviewpartner, der noch in Amt und Würden steht. Mit einer halben Sekretärin im Vorzimmer habe er keinen Grund zur Klage. Die Logik ist unverfänglich und behält im Zweifelsfall immer Recht. Im Pluralismus sei es überdies zu anstrengend, sich die Gegner auszusuchen, meint er, und schickt einem jeden seiner Sätze ein spöttisches Glucksen hinterher. Aus A folgt B, wenn A, dann B oder: AA Strich BB. Alles eine Frage der richtigen Logik.

Ob aber denn aus A was folge, und wenn ja, was, und ob das, was hinten rausgekommen ist, nicht doch denen Recht gibt, die 1950 alles anders machen wollten – für das Soziologen-Ehepaar Toni und Erich Hahn hat sich 1989 nichts entschieden. Sicher sei weiterhin nur, dass nichts sicher ist, zitiert Erich Hahn einen alten philosophischen Trinkspruch und verspricht, noch ein Buch vorzulegen, in dem er gegen den Kapitalismus „anstinken“ will, in dem man jetzt wohl oder übel gelandet sei. Man kann von niemandem verlangen, sich für sein Leben zu entschuldigen wie nach einem 50-jährigen Schluckauf. Da ist die Aufrichtigkeit der Hahns, auch wo sie bisweilen peinlich anrührt, wohl sympathischer als die augenzwinkernde Rhetorik, die sich andere in der neuen Mitte angelesen haben. TOBIAS HERING