Pracht in ihrer asketischsten Form

Bernhard Leitners Buch „Das Wittgenstein Haus“ gibt dem interessierten Leser erstmals die Mittel an die Hand, die höchst eigenwillige Architektur der Stadtvilla zu verstehen, die der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1928 für seine Schwester Margarete Stoneborough im 3. Bezirk von Wien baute

von BRIGITTE WERNEBURG

Seit fünfundzwanzig Jahren wird an dem Haus nichts mehr gerichtet. Dem Land Bulgarien, dem es gehört und das es als Kulturinstitut nutzt, fehlt dafür das Geld. Und so ist der Zustand heute so prekär wie zu der Zeit, als die damalige Volksrepublik das Gebäude vor dem Verfall bewahrte. Heute freilich, anders als zu Beginn der 70er-Jahre, gäbe es genügend Käufer, die es erwerben und sanieren möchten. Doch Bulgarien, einst einsamer Interessent, nachdem die Abbruchgenehmigung widerrufen war, ist zu einer Veräußerung nicht bereit. Man möchte sagen: das arme Wittgenstein Haus. Das hat das Stadtpalais, das der Philosoph Ludwig Wittgenstein 1928 für seine Schwester Margarete Stoneborough entworfen und im 3. Bezirk, Kundmanngasse 19, in Wien gebaut hat, nicht verdient.

Seinen Retter aber hat es verdient. Einen besseren hätte es nicht finden können. Das zeigt das Buch „Das Wittgenstein Haus“, das Bernhard Leitner rund dreißig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung über das Wittgenstein Haus jetzt herausgebracht hat. Leitner ist der Bautätigkeit Wittgensteins mit einer so leidenschaftlichen Geduld auf der Spur, dass man glaubt, mit diesem Band erstmals die Mittel an der Hand zu haben, die es erlauben, den eigenartigen Bau wirklich zu verstehen. Leitner traktiert den Leser nicht mit den üblichen Annahmen über den Architekten Ludwig Wittgenstein. Keine Rede davon, diese Architektur sei die Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln.

Leitners Engagement für dieses Haus geht auf einen Artikel zurück, den er 1969 für die Kunstzeitschrift Artforum verfasste. Der Aufsatz wuchs sich zu einer Initiative zur Rettung des Gebäudes aus, das 1971 abgerissen werden sollte, um einem Hotelturm Platz zu machen. Rund dreißig Jahre später dokumentiert Leitner fotografisch seinen Zustand und rekonstruiert praktisch am Material die Problemstellungen und Lösungen, die Wittgenstein beim Bau sah. Leitner, der in seiner eigenen künstlerischen Arbeit seit den 60er-Jahren das Zusammenwirken von Klang, Raum und Körper erforscht, hat wunderbare Aufnahmen von den Raumfolgen und -situationen gemacht. Es sind diese Fotografien, die deutlich machen, dass Wittgensteins Stadthaus trotz seines äußeren, kubisch-modernistischen Aussehens kein Bau der Moderne und des International Styles ist: Denn anders als die Villen von Mies oder Le Corbusier, deren revolutionäre Schönheit erst im perfekten Layout der Zeitschriften und Bildbände richtig zur Geltung kommt, ist es ganz und gar unfotogen. Dieses Haus möchte nicht propagiert werden. Es will benutzt werden.

Eben dieser vollkommen auf den persönlichen Nutzen abgestimmte Charakter des Hauses hat verhindert, dass es am sonstigen Ruhm seines Architekten teilhatte und gebührend dokumentiert wurde. Weitgehend unbekannt, wie es seit Jahren war, konnte deshalb Wittgensteins Neffe Thomas Stoneborough ganz allein und zunächst ohne öffentlichen Einspruch über sein Schicksal bestimmen. Selbst ein möglichst lohnender Verkauf und Abriss schien eine denkbare Option.

Leitner konzentriert sich in seiner Untersuchung ganz auf das Erdgeschoss. Die Hausherrin konnte es ganz für sich sowohl privat – im Bereich von Wohn- und Schlafzimmer – wie auch repräsentativ – im großen Saal und im Speisezimmer – nutzen. Die Zimmer für die Kinder, Dienstboten und Gästezimmer lagen in den oberen Geschossen, ebenso die Wohnung des Ehemannes.

Auf äußeren Schmuck hat Wittgenstein verzichtet. Sein Haus besticht allein durch die Exaktheit und die millimetergenauen Proportionen seiner Gestaltung. Die Missverständnisse, die es hervorrief, weisen am deutlichsten auf seine wahre Qualität hin: „Und Wittgenstein? Der war kein Architekt, hatte sich nie mit Architektur befasst . . . er ersann die hypokaustische Heizung, den polierten Betonboden, die Bunkertüren und als Beleuchtungskörper nackte Glühbirnen, am Kabel von der Decke hängend . . .“ So hat der Landeskonservator im Denkmalamt von Wien, Peter Pötschner, 1970 den Bau denunziert. Bei den Bunkertüren handelt es sich um grau-grünlich lasierte Metalltafeln, die abends die Fenstertüren auf die zwei Terrassen verschlossen und die tagsüber in den Keller versenkt wurden. Diese Kurtinen, die der Sicherung dienten, vor allem aber die Vorhänge ersetzten, hatten kein Gestänge, keine Griffe und keine Verriegelungen. Mit Hilfe eines Flaschenzugs mit exakt austariertem Gegengewicht und einem versteckten Hebelmechanismus im Warmluftgitter der Fußbodenheizung (hypokaustische Heizung) konnten die 100 Kilogramm schweren Wandtafeln ohne die geringste Anstrengung noch oben gefahren werden.

Die Sinnlichkeit dieser glänzenden, makellosen Farbfelder in den seidig glänzenden gelblichen Stuccolustro-Wänden von Saal und Speisezimmer muss ganz einzigartig sein. Sie kann nicht mit Worten wie „wohnlich“ oder „funktional“ beschrieben werden. Pracht in ihrer denkbar asketischsten Form, Schönheit und sicher auch Komfort, Bequemlichkeit – freilich in einem ganz und gar individuellen, auf die Bewohnerin des Hauses zugeschnittenen Sinn: das sind die Begriffe, die wohl in Anschlag zu bringen wären. Aber nichts davon inszeniert dieses Haus. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch, so dachte Wittgenstein, und nur das Bewohnen heißt den Sinn seines Gebäudes zu erfahren.

Folgt man Bernhard Leitners Recherchen, dann stellt sich heraus, dass noch in jedem der vielen, zunächst höchst eigenartig anmutenden Details, angefangen bei den Fußbodenplatten über die komplexen Türinstallationen im Übergang von Halle zu Saal, dann vom Saal zum Wohn-/ Schlafbereich bis hin zu den Säulen in der großen Eingangshalle, die wohldurchdachte Lösung einer ebenso konstruktiven wie pragmatischen Aufgabe steckt. Die Fußbodenplatten etwa mussten wegen der Bodenheizung extrem dünn sein. Gleichzeitig wollte Wittgenstein sie aber großflächig haben. Um ihre Haltbarkeit zu gewährleisten, ließ er in jede Platte eigens ein Metallgeflecht eingießen.

Es ist ein enormer Reichtum, an Geld, aber auch an Zeit, Überlegung und Erfindung der beteiligten Handwerksfirmen in Wittgensteins Haus geflossen. Ein Reichtum, dem Leitners akribische Nachforschungen und Rekonstruktionen und der Respekt, den er den höchst eigenwilligen Konstruktionen des nicht weniger eigenwilligen Erfinders der Theorie der Sprachspiele entgegenbringt, absolut gerecht werden. Kaum ein Buch zum Thema Architektur war in der letzten Zeit so aufregend zu lesen – und keine Architektur so spannend zu entdecken.

Bernhard Leitner: „Das Wittgenstein Haus“. Hatje/Cantz, Ostfildern-Ruit 2000, 189 Seiten, 78 DM