zwischen den rillen
: Endstation Easy Listening: R.E.M. wollen in Schönheit sterben

Die Hülle des Salamanders

Keine Ahnung, wann und wo genau R.E.M. die Bodenhaftung verloren gegangen ist. War es 1987, als sie das Ende der Welt, wie wir sie kannten, verkündeten, die Welt sich aber unbeeindruckt fröhlich weiterdrehte? War es 1991, als Michael Stipe seinen berüchtigten Slogan-T-Shirt-Auftritt bei den MTV Awards hatte? Oder war es 1996, als die Band einen 80 Millionen Dollar schweren Weltrekord-Deal mit Warner unterschrieb und Stipe anschließend dem Präsidentschaftskandidaten Dole seinen nackten Arsch zeigte? War es 1999, als Milos Forman einen Film nach einem Song von ihnen benannte. Oder war es erst letzten Monat, als Michael Stipe die letzte Ration seines ökologisch angebauten Grases weggegammelt war.

Tatsache ist: Im 21. Jahr ihres Bestehens, auf dem neuen Werk „Reveal“, schwebt das Trio aus Athens, Georgia, irgendwo ganz oben, mit dem Kopf in den Wolken. Dort droben ist es flauschig und watteweich, heimelig und harmonisch, und so klingt „Reveal“ wie die vertonte Mutter Teresa.

Die Musik auf diesem zwölften Studio-Album von R.E.M. ist, zum überwiegenden Teil, wieder ganz altmodisch mit Instrumenten entstanden, die elektronischen Experimente des Vorgängers „Up“ abgehakt. Kein Drumcomputer ersetzt diesmal den vor drei Jahren gegangenen Trommler Bill Berry, sondern echtes Schlagwerk wird im Sampler geloopt. Vor allem aber scheint sich Stipe des von ihm verehrten Burt Bacharach erinnert zu haben. Gitarrist Peter Buck und Bassist Mike Mills assistieren, indem sie mit dem Sound der heiß geliebten Beach Boys liebäugeln, und schichten unverzagt lieblichen Klang auf lieblichen Klang. Nicht zu vergessen ein Haufen Studiomusiker und gleich 21 Streicher – ich hab sie gezählt.

Das Ergebnis ist im Grunde kaum mehr als Easy Listening. Großes, warmes, wunderbares Easy Listening. Ohne Humor allerdings, sonst eine der wichtigsten Qualitäten von Easy Listening. „Reveal“ aber muss seine eigene Süßlichkeit ernst nehmen, weil ihm sonst schlecht werden müsste. Heiße Luft als Rockpop getarnt, Air (die aus Frankreich) mit Gitarren.

Davon kann man, möchte man jetzt einwenden, nie zu viel in Reserve haben, wenn man mal mies drauf sein sollte und keine Schokolade im Haus hat. Und das stimmt natürlich, denn so ganz ohne Bodenhaftung, das kann manchmal auch ganz schön sein. Wie auf „Reveal“ eben: Melodien, an die man sich einen Moment, nachdem sie verklungen sind, schon nicht mehr erinnert. Schmelz ohne Halbwertszeit, Kitsch ohne Reue. R.E.M. haben die Sorte Kaugummi produziert, die schnell an Geschmack verliert, aber nie wieder aus den Karieslöchern rauswill.

So ziemlich exakt der Effekt also, der Michael Stipe vorschwebte. Er wollte ein Album machen, verkündete er in einem Interview, zu dem man problemlos mitsummen und abwaschen kann, in das man aber auch tiefer eintauchen kann, wenn man denn wolle. „Reveal“ bedeutet, verrät der Langenscheidt, „enthüllen, aufdecken“ – im Idealfall ein Geheimnis. Das Problem ist nur: Da ist kein Geheimnis. Unter der glitzernden Oberfläche ist nicht viel zu entdecken außer der gewohnt assoziativen Dichtkunst von Stipe, an deren Kryptik sich schon viele englische Muttersprachler ihr Interpretationsarsenal abgestumpft haben.

Was bleibt? Die Haut des Salamanders. Die Eierschale, die im Kompost partout nicht verrotten will. Die Hülle einer Band, die ihre historische Aufgabe schon vor langer Zeit erfüllt hat, als sie zuerst den College Rock erfand, ihn zum Alternative Rock transformierte und ihn dann auch gleich höchstpersönlich in den Mainstream beförderte. Dort löste er sich in Wohlgefallen auf. Zurück blieb allein seine einsam schillernde Ästhetik. Mit „Reveal“ erkennen R.E.M. nun ganz offiziell diesen Sachverhalt an. Damit ist der Fall erledigt. Er hört sich gut an, dieser erledigte Fall. Sehr gut, viel zu gut. Mehr aber auch nicht. THOMAS WINKLER

R.E.M.: „Reveal“ (WEA)