Die Stadt etc.

Der Sage nach stand die Liebe des phönizischen Kaufmanns Protis zur einheimischen Königstochter Gyptis am Anfang der Stadt. Als Mitgift erhielt das Paar einen Flecken Land, auf dem es die spätere Mittelmeermetropole gründete. So beginnt die Geschichte Marseilles bezeichnenderweise mit einem Einwanderer.

Als Hafenstadt hat Marseille seit je multikulturellen Charakter. Von achthunderttausend Einwohnern sind heute 110.000 ausländischer Herkunft, die Hälfte von ihnen besitzt die französische Staatsbürgerschaft. 1999 feierte die zweitgrößte Stadt Frankreichs ihr 2.600-jähriges Bestehen.

Im Gegensatz zu dem Bild, das Jean-Claude Izzo von Marseille zeichnet, geht die Kriminalität in der Stadt zurück – in den letzten zehn Jahren um 4,7 Prozent, während sie in ganz Frankreich um 0,75 Prozent zunahm. Gemessen an der Kriminalitätsrate pro tausend Einwohner kommt Marseille mit 110 Straftaten landesweit erst an 25. Stelle – weit hinter Avignon (Platz 1) und Paris (Platz 2). Dennoch glauben 48 Prozent aller Marseiller, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert. Besorgniserregend bleibt in jedem Fall die hohe Arbeitslosenrate von über siebzehn Prozent. Über die Hälfte aller Marseiller ist wegen der wirtschaftlichen Lage „sehr beunruhigt“. Aber: Ganze 39 Prozent würden Marseille „niemals“ für immer verlassen.

Bei den Gemeindewahlen 1995 erhielt der rechtsextreme Front National (FN) stolze neunzehn Prozent. 1999 spaltete sich der Mouvement National Républicain (MNR) vom FN ab und trat zu den diesjährigen Gemeindewahlen im März gesondert an. Dadurch schwächte sich die rassistische Bewegung selbst. Lediglich der MNR schaffte es in den zweiten Wahlgang und holte zwölf Prozent der Stimmen. Der FN (sieben Prozent) scheiterte an der Zehnprozentklausel.

Film: Der mit Jean-Claude Izzo befreundete Regisseur Robert Guédiguian drehte mit „Marius et Jeannette“ (1997) eine schöne Liebesgeschichte in den Hinterhöfen Marseilles. Auch die „Marseilletrilogie“ wird gerade fürs französische Fernsehen verfilmt. Allerdings hat die Besetzung des Fabio Montale einen mittleren Skandal ausgelöst: Ausgerechnet der als rechts bekannte Alain Delon soll die Rolle übernehmen.

Musik: Die Rapgruppe IAM beschreibt in ihren Songs die Lebensbedingungen von Marseiller Jugendlichen. Gerade für Einwandererkids ist Rap ein eigenes Sprachrohr geworden, mit dem sie ihr Schicksal zwischen Arbeitslosigkeit, Fremdenhass und Kriminalität besingen. Weitere Szenegruppe mit guter Musik: Massilia Sound System (Ragga).

Literatur: Jean-Claude Izzo: Total Cheops, Zürich 2000, 256 Seiten, 16,90 Mark; Chourmo, Zürich 2000, 272 Seiten, 16,90 Mark; Solea, Zürich 2001, 208 Seiten, 16,90 Mark. Alle drei Bücher verlegt der Schweizer Unionsverlag. Zusammen mit einem Freund hat Izzo einen wunderschönen Bildband von Marseille herausgegeben: Jean-Claude Izzo (Text) und Daniel Mordzinski (Fotos): Marseille, éditions Hoëbeke 2000, 88 Seiten, 300 Franc. BJÖRN KERN