Gesetzlich geregelte Vorhaut

Schweden will die Beschneidung von Jungen ausdrücklich erlauben, um die Risiken so genannter Küchentischchirurgie zu reduzieren. Kulturelle Rechte versus Kinderrechte

STOCKHOLM taz ■ Didar liegt auf der Pritsche einer Privatklinik in Stockholm. Eine Krankenschwester hält seine Arme und Beine fest. Der Kinderchirurg Jakob Nathanson sticht mit einer Betäubungsspritze mehrmals rund um die Peniswurzel des drei Monate alten Jungen, der laut schreit. Minuten später zieht der Arzt mit einer Operationszange probeweise an der schrumpeligen Vorhaut des Jungen: „Jetzt spürt er nichts mehr.“ Didar weint und schreit jedoch weiter. Nathanson schiebt die Zange unter die Vorhaut, klemmt sie mit einem Spezialinstrument fest und schneidet dann den Hautfetzen mit einem Skalpell ab.

Didars Mutter verließ schon beim ersten Schrei den Raum, der Vater dagegen bannt alles auf Video: Später soll es eine schöne Erinnerung für den erwachsenen Sohn sein. Erst nach einer halben Stunde beruhigt sich Didar an der Brust seiner Mutter: „Das hat sicher sehr wehgetan“, sagt sie, „aber wir sind Muslime. Für uns ist eine Beschneidung selbstverständlich.“

Nathanson hat dieses Jahr schon über 300 Vorhäute abgeschnitten. Er macht das seit 40 Jahren, bis Ende der 80er-Jahre ohne Betäubung. Ende Mai wird Schwedens Parlament ein Gesetz verabschieden, das die männliche Beschneidung ausdrücklich zulässt. Zwar hatten Nathanson und andere Ärzte schon bisher keine Probleme mit der Justiz. Aus kulturellen oder religiösen Gründen Jungen zu beschneiden, war in Schweden nie verboten. Mit dem Gesetz will man aber von der „Küchentischchirurgie“ wegkommen und erreichen, dass nur Ärzte oder anerkannte „Beschneider“ die Eingriffe vornehmen. Pro Jahr werden in Schweden rund 3.000 Knaben in Kliniken oder jüdischen Gemeinden beschnitten. Die tatsächliche Zahl wird auf das bis zu Vierfache geschätzt.

„Der Eingriff soll mit Schmerzlinderung und unter hygienischen Verhältnissen vorgenommen werden, die für den Jungen am optimalsten sind“, heißt es im Gesetzentwurf. Ursprünglich sollte bei Jungen unter zwei Monaten der Eingriff ohne schmerzstillende Mittel zugelassen werden, was erst bei der letzten Ausschusssitzung gestrichen wurde. Auf harte Kritik stieß aber auch der beschlossene Entwurf. „Die Vorhaut eines kleinen Jungen aus kulturellen oder religiösen Gründen abzuschneiden ist eine ebenso unakzeptable Misshandlung wie die weibliche Beschneidung“, meint Yngve Hofvander, Professor an der Uniklinik Uppsala. Er sieht einen Verstoß gegen die UN-Menschenrechts- und -Kinderkonventionen: „Die Jungen werden ungefragt auf dem religiösen Altar ihrer Eltern geopfert. Einmal beschnitten ist ja für immer beschnitten. Die Jungen sollten als Erwachsene selbst entscheiden dürfen.“

Die Bewertung der Beschneidung als Geschlechtsverstümmelung ist für Nathanson eine „Kränkung der Millionen beschnittener Männer“. Der Eingriff bringe nur medizinische und hygienische Vorteile: „Man braucht die Vorhaut nicht. Je früher man sie abschneidet, desto besser. Ich habe von vielen Frauen gehört, dass beschnittene Männer besser riechen und schmecken.“ Das Risiko von Geschlechtskrankheiten, Krebs und HIV-Infektionen sei bei Beschnittenen geringer.

Für Hofvander sind solche Argumente „kompletter Schwachsinn“. Es gebe keine medizinischen Rechtfertigung für solche Eingriffe. Vielmehr gebe es bei jeder zehnten Beschneidung Komplikationen. Der Streit auf medizinischer Ebene findet auf psychologischer seine Entsprechung: Untersuchungen, nach denen Beschnittene glauben ein besseres Sexualerlebnis zu haben, stehen solche gegenüber, wonach die fehlende Vorhaut angeblich zu eingeschränkter Penisempfindlichkeit, mangelndem Selbstvertrauen und Traumata führe. Endgültige Antworten sind nicht zu erwarten, da es den meisten Männern an der Vergleichsmöglichkeit fehlt. Auch Didar wird diese nicht haben. Seine Eltern, die für ihn entschieden, glauben das Beste getan zu haben. REINHARD WOLFF