Vier Minuten für die Ewigkeit

Nach dem mühsam herbeigestolperten 5:3 gegen die Absteiger aus Unterhaching darf Schalke 04 schon mal ein paar Augenblicke lang ausprobieren, wie es sich anfühlt, Deutscher Meister zu sein

aus Gelsenkirchen HOLGER PAULER

„Den Fußballgott gibt es nicht mehr.“ Rudi Assauer outete sich auf der letzten Pressekonferenz im Gelsenkirchener Parkstadion als Fußballnihilist und erntete für diesen Satz die einhellige Zustimmung aller Anwesenden. Was ab der 90. Minute abgegangen war, war für alle Beteiligten einfach zu viel.

Hätte Schiedsrichter Markus Merk das Spiel in Hamburg nach 89 Minuten abgepfiffen, alle wären zufrieden nach Hause gegangen. Bayern München wäre Meister, fertig. Doch dann kam die 90 Minute. Ebbe Sand hatte kurz vorher mit dem 5:3 das Spiel gegen die Unterhachinger und damit deren Abstieg entschieden. Plötzlich fällt das 1:0 für den HSV. Ungläubige Mienen. Als sich die Nachricht verbreitet, brechen alle Dämme. Ein Premiere-Mitarbeiter verkündet, dass das Spiel in Hamburg vorbei sei. Feiernde Spieler, ausgeflippte Fans stürmen den Rasen, Böllerschüsse.

Auf der Videoleinwand läuft die Nachspielzeit von Hamburg. „Eine Aufzeichnung, oder?“, flehen die Zuschauer verzweifelt. „Nein, live“. Trainer und Spieler flüchten in die Kabine. Das ganze Stadion schaut gebannt auf die Leinwand. Der indirekte Freistoß für die Bayern ist nur schemenhaft zu erkennen. Trotzdem ahnt jeder, was folgen wird. Nach Anderssons Ausgleichstor bricht alles in sich zusammen. Hemmungslos heulende Fans. Leere Blicke. Fassungslosigkeit auch bei Spielern und Verantwortlichen. „Der Premiere-Mann hat uns verarscht“, wütet Niels Oude Kamphuis. Rudi Assauer ist völlig fertig. Als sich die Mannschaft später ihren trotzig singenden Fans präsentiert, verliert sogar Huub Stevens die Fassung.

Pressesprecher Gerd Voß bittet kurz darauf mit zittriger Stimme und tiefroten Rändern unter den Augen zur Pressekonferenz. Huub Stevens und Rudi Assauer bemühen sich um Haltung. Hachings Trainer Lorenz Günter Köstner will bei der Trauerarbeit nicht stören und erscheint erst gar nicht.

Dadurch verpasst er den grandiosen Rudi Assauer, der, nachdem er „literweise Tränen vergoss“, noch einmal alle Kräfte mobilisiert und mit einem scheinbar endlosen Monolog die innere Enttäuschung vergessen will. Zunächst verbittet sich der Manager alle Schuldzuweisungen Richtung HSV-Keeper Mathias Schober, der mit der Aufnahme eines Rückpasses den Siegesfreistoß der Bayern ermöglichte: „Der Schobi ist nach wie vor ein Schalker Junge.“ Huub Stevens kann dies nicht ganz teilen und spricht emotionslos nur vom „Hamburger Torwart“.

Rudi Assauer würdigt weiter die Super-Saison seiner Mannschaft, eine Leistung, die den Schalkern niemand zugetraut hätte, schon gar nicht die Medienvertreter. „Die Vize-Meisterschaft bringt uns mehr Sympathien als der Meistertitel“, erklärt er trotzig. Das Spiel, die ganze Dramaturgie sei doch eine Werbung für den Fußball gewesen. Genial, super, Wahnsinn, der Manager kriegt sich gar nicht mehr ein. „Ich bitte Sie, diese Eindrücke mit nach Hause zu nehmen. Acht Tore, wann gibt es das schon.“

Das eigene Spiel war allerdings trotz der acht Tore objektiv grausam. Das Schalker Team knüpfte nahtlos an die Leistungen der letzten Wochen an. Zwei Tore Rückstand, Ausgleich vor der Pause, erneuter Rückstand. Erst die Einwechslung von Olaf Thon beim Stande von 2:3 brachte den entscheidenden Schub. Jörg Böhme, der eigentlich stehend k.o. war, mobilisierte die letzten Kräfte und schoss Schalke Richtung Sieg. Zwei mal zwei Minuten reichten, um die Voraussetzung für den Showdown zu schaffen. Der Rest war Warten auf Hamburg.

Überflüssiges Warten, wie Jörg Böhme eingestand: „Wir haben uns an das Glück der Bayern gewöhnt.“ Aber das sei ja nicht nur Glück, glaubt Rudi Assauer, sondern 30 Jahre harte Arbeit, „Wir müssen da erst noch hinkommen.“ Dabei sind sie auf dem besten Weg. Ein neues Stadion, von dem die Bayern noch träumen, haben sie schon. Und Meister für vier Minuten, das macht süchtig nach mehr. Der Nachbar aus der verbotenen Stadt hat dies 1992 vorgemacht. Bis zur 86. Minute hatten sie damals die Schale in der Hand, ehe Stuttgart zurückschlug. Zwei Jahre später war der BVB dann ganz oben.

Die Schalker werden in der neuen Arena also nicht nur den optischen Beweis dafür antreten, dass es das „alte Schalke nicht mehr gibt“ (Ernst Kuzorra). Der Fußballgott wird auferstehen und den Königsblauen endlich wieder einen nationalen Titel bescheren. Auch wenn es dabei nicht mehr so rührselig zugehen wird wie am vergangenen Samstag.

Schalke 04: Reck - Hajto, Waldoch (29. Oude Kamphuis), van Kerckhoven (68. Büskens) - Asamoah, Van Hoogdalem, Nemec (71. Thon), Böhme - Möller - Sand, MpenzaSpVgg Unterhaching: Tremmel - Strehmel - Grassow, Seifert - Haber, Zimmermann, Cizek, Schwarz (79. Oberleitner), Hirsch - Breitenreiter (79. Ahanfouf), Spizak (68. Rraklli)Zuschauer: 65.000; Tore: 0:1 Breitenreiter (3.), 0:2 Spizak (27.), 1:2 van Kerckhoven (44.), 2:2 Asamoah (45.), 2:3 Seifert (69.), 3:3 Böhme (73.), 4:3 Böhme (74.), 5:3 Sand (89.)