Cineastische Teilchenbeschleuniger

Cannes als Ort der Projektionen und Projekte: Bei den 54. Filmfestspielen ging es um Aufmerksamkeit, Geld und Verträge – fleischlich auf der Croisette, reflektiert auf der Leinwand. Am jüngsten zeigten sich hier die Altmeister der Nouvelle Vague

von KATJA NICODEMUS

Wie stellt man's an? Mit Pappschildern, Zetteln oder im Leopardenoutfit? Um die Aufmerksamkeit und vielleicht auch ein paar Produktionsdollar vom amerikanischen Produzenten und Miramax-Chef Harvey Weinstein zu bekommen, lief ein australischer Filmemacher in diesem Jahr in Cannes als wandelnde Kartonwand herum, auf der in krakeliger Schrift „looking for Harvey“ stand. Damen in Lacklederkluft verteilten Zettel mit Internetadressen, auf denen sich mögliche Finanziers die Trailer von durchaus seriösen Filmprojekten anschauen konnten. Andere nahmen es gelassener mit dem Auf-sich-aufmerksam-Machen. Die „leopard ladies“ Pascalina und Esmeralda gehen schon seit zwei Jahrzehnten nur in knappen Leopardenkleidchen aus dem Haus. Von den Filmfestspielen wurden Mutter und Tochter als pittoreske Maskottchen adoptiert, den Rest des Jahres treten sie als Stargäste bei Partys und Supermarkteröffnungen auf – famous for being famous. In diesem Jahr nutzte das jüngere Leopardenstarlet den Auftritt auf der Croisette für die Präsentation ihres Regiedebüts: Esmeraldas achtminütiger Film „Die nackte holländische Schönheit in ihrem Bad“ mit ihr selbst in der Hauptrolle hatte in Cannes Premiere. „Von der Weltpresse hat den Film noch niemand gesehen“, sagte sie selbstbewusst im Fernsehen, „aber ich habe lange am Drehbuch gearbeitet, viel über Film nachgedacht und mich manchmal wie Godard gefühlt.“

Cannes als Ort der Projektionen und Projekte. Im Wettbewerb dieser 54. Festivalausgabe lief der neue Film eines Schweizer Eremiten, der seit fast vier Jahrzehnten vom Kino und seinem ewigen Projektcharakter erzählt. Für Godard bedeutet Filmen eine Haltung zur Welt und das Bildermachen immer wieder von neuem die philosophische Beschäftigung mit ihrer Abbildbarkeit. Dabei werden in seinem neuen Film „Eloge de l'amour“ durchaus auch einige der praktischen Probleme angesprochen, mit denen sich das bunte Völkchen herumschlägt, das an der Croisette jedes Jahr im Mai zehn Tage lang um Aufmerksamkeit, Geld und Verträge balgt. Immer wieder klingen in Godards musikalisch verwobenem Zitatenteppich die leidigen Fragen an, die am Anfang jedes Projekts stehen: Wo treibt man das Geld auf? Gibt es eine Botschaft? Muss es eine Handlung geben? Welcher bescheuerte, aber möglichst eingängige Titel (zum Beispiel „Eloge de l'amour“) überzeugt die Produzenten und gefällt dem Publikum? Bei Godard bleibt das Kino auch deshalb ewiges Projekt, weil jedem Ausdruck ein Eindruck vorangehen muss, weil jedes Bild und jedes Wort ununterbrochen von anderen Bildern und Worten begleitet werden, weil Bildermachen Denken bedeutet und jeder Gedanke immer nur in der Differenz zu anderen Gedanken denkbar ist.

„Eloge de l'amour“ ist ein Film über alles und nichts. Über nichts, weil es um Kulturimperialismus und den Umgang mit Geschichte und Geschichten geht, um Wahrnehmungsphysiologie und Condorcets Sensualismus, um John Ford und die holländische Sterbehilfe, Bergson und Chateaubriand, wobei aber nichts herausgehoben, sondern sofort von der nächsten Idee abgelöst oder weiterassoziiert wird. Gleichzeitig ist „Eloge de l'amour“ ein Film über alles, weil Godards Fluss von Ideen und Zitaten in jede Richtung offen und anschlussfähig bleibt, irgendwo zwischen Vorschlag, Einladung und Skizze. Kein Fazit, keine Bilanz, keine Botschaft und kein Ende. Projekt eben.

„Eloge de l'amour“ ist auch ein Film, der die widerständigen Positionen seines Machers in Gestalt eines alten asthmatischen Résistance-Ehepaares mitreflektiert. So kann dem Widerstand manchmal auch der leicht modrige Geruch der ewigen Grantelns anhaften. „Es gibt dieses Gefühl, von gestern zu sein, das ist entmutigend“, heißt es einmal keineswegs kokett.

Vor etwa vierzig Jahren hat Godard zusammen mit Jacques Rivette am Projekt einer Kinozeitschrift mitgearbeitet, die sich damals als intellektuelle Phalanx der Filmmoderne verstand und die Nouvelle Vague vorwegschrieb. In Cannes feierten die Cahiers du Cinéma ihren 50. Geburtstag, Godard ist jetzt 70 und Rivette 73 Jahre alt. Man muss nicht besonders sentimental sein, um festzustellen, dass die beiden Old Boys der Nouvelle Vague in diesem Jahr in Cannes wahrscheinlich zum ersten und letzten Mal gemeinsam in einem internationalen Wettbewerb gelandet sind. Aber was die beiden und ihre Arbeiten, die von zwei verschiedenen Sternen zu kommen scheinen, immer noch verbindet und jünger macht als fast alle anderen in Cannes gezeigten Filme, ist die ungeheure Freiheit, die sie den Dingen lassen, von denen sie erzählen.

Auch für Rivette bleibt das Kino ein Projekt. Eines, das sich schon 1970 in seinem dreizehnstündigen Film „Out One“ als libidinös verwirrte, improvisierte und chaotische Theaterinszenierung zusammenfinden musste. „Va savoir“ ist der Titel seines neuen Films, was auf Deutsch ungefähr so viel heißt wie „mal sehen“. Wieder geht es um die Rahmenbedingungen, in denen so etwas wie Repräsentation stattfinden kann.

Rivettes Freiheit ist vor allem eine des Raumes. Nie hat man bei ihm das Gefühl, dass jemand ins Licht gerückt oder inszeniert wird. Eher setzt die Kamera einen Rahmen, den die Schauspieler als ihre Bühne in Besitz nehmen können. Manchmal auch als Bühne in der Bühne.

Wie ein aufgescheuchtes Huhn läuft Jeanne Balibar am Anfang mit Lampenfieber durch ein Theater, terrorisiert die Kollegen und spielt sich auf, wie man es von Theaterschauspielern im Kino halt gewohnt ist. Am Ende hat sich Balibars Schauspielerinnenfigur so weit von diesem Klischee entfernt, dass der affektierte Auftakt nur mehr wie ein erstes Echo der Goldoni-Komödie wirkt, nach der in „Va savoir“ in diversen öffentlichen und geheimen Pariser Bibliotheken fieberhaft gesucht wird. So übernimmt „Va savoir“ von Anfang und sozusagen unterirdisch den Tonfall eines Stückes, das eigentlich erst am Ende des Films unter einem Stapel staubiger Kochbücher gefunden wird.

So unterschiedlich ihre Auffassung vom Kino und der Umgang mit seinen Mitteln sind, die Verwandtschaft von Godard und Rivette liegt in den vielen Ebenen, auf denen der Gegenstand evoziert wird. Bei beiden kristalliert er sich erst durch die filmische Form heraus, während Kino heute meistens darauf reduziert wird, ein Thema zu behaupten und an den Windungen des Drehbuchs entlang zu inszenieren. Als er noch Filmkritiker war, hat Jacques Rivette für diese Routine mal das schöne Bild eines Zuschauers erfunden, der wie eine Laborratte durch genau vorbestimmte Wege geführt wird .

In den kleinen Club der unbeugsamen Projektleiter, die, um es mal schön pathetisch zu sagen, das Kino mit jedem Film neu erfinden, gehört auch der Portugiese Manoel de Oliveira. In „Ich gehe nach Hause“, der in Cannes ebenfalls im Wettbewerb lief, wird das Theater zur Spiegelfläche für die allgemeine Gaukelei des Lebens: Michel Piccoli spielt einen Schauspieler, der langsam begreift, dass Sterben auch das Ende der Repräsentation bedeutet. Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis begleitet ihn Oliveiras Film aus eher heiterer Distanz. Mit einer Kamera, die Piccoli bei seinen leicht zerstreuten Wegen durch Paris folgt. Wenn er sich ein paar teure Schuhe kauft, wird damit ohne große Symbolik auch die letzte Etappe eines Lebens eingeleitet. Einmal sieht man Piccoli in der Garderobe sitzen, wo er mit einer besonders dämlichen Perücke für einen besonders dämlichen Film geschminkt wird. Der Blick in den Spiegel wird zur komischen Nummer und erzählt dabei auch, dass die Zeit der Maskerade vorbei ist.

Mit Manoel de Oliveira liegt das Durchschnittsalter der kleinen Best-of-Regisseursliste von Cannes übrigens bei um die 80 Jahren. Nimmt man noch einen 55-jährigen jungen Hüpfer wie David Lynch dazu, dessen Film „Mulholland Drive“ ohne jede Hoffnung auf Erwachen in seinem eigenen Alptraumloop gefangen ist, dann wären wir genau beim Rentenalter angelangt.

Ein Altersheim mit goldenen Namensschildchen als Hot Spot des internationalen Autorenkinos? Und wenn schon. Zumal die Söhne und Enkel im Vergleich den Trott der Frühvergreisten pflegen. Nanni Moretti betreibt in „Das Zimmer des Sohnes“ Trauerarbeit als klaviergetränktes Mittelstandskino, Jacques Doillon verplappert sich endgültig in der Liebe, die amerikanischen Independents zerschreddern sich in Pseudo-Nouvelle-Vague-Geschichten, und in Asien sorgen wackelnde Börsenkurse für Enid-Blyton-hafte Zivilisationskritik: Raus aus dem verderbtem Tokio aufs Land, um dort als Hühnerfarmer und Fischer authentisch durchzuatmen.

Da bleiben wir doch lieber mit Rivette, Oliveira und Godard in Paris und lassen uns unsere Hirne ganz unauthentisch durch den cineastischen Teilchenbeschleuniger jagen.