Die faszinierende Konzentration auf Lyrik

■ Lesego Rampolokeng will nicht den zivilisierten Affen spielen, und für Lavinia Greenlaw ist Dichten eine politische Tat: der Nachbericht zu einem aufregenden Festival namens „Poetry on the Road“ Nummer zwei

„Ist das Gedicht gemacht / verschwindet der Dichter“, heißt es im programmatischen „Un poema“, das der mexikanische Dichter Homero Aridjis gleich zur Eröffnung des Literaturfestivals „Poetry on the Road“ ins abgedunkelte Parkett des Schauspielhauses spricht. Ruhig, gelassen – und auf Spanisch. Die Übersetzung liest der Dichterfreund Joachim Sartorius. Bei Aridjis Vortrag wird gleich klar, worum es bei diesem Festival geht: Wie schreibt man heute Lyrik (und warum)?

Nun ist der Mexikaner aber auch Präsident des internationalen SchriftstellerInnenverbandes P.E.N. Also macht ein Festival wie „Poetry on the Road“ neben dem Vergnügen und der sich gelegentlich einstellenden Langeweile auch auf die derzeitige Situation von Intellektuellen aufmerksam.

Ein Festival ist immer auch eine Gegenbewegung zum verschwundenen Dichter. Denn auch wenn, wie Aridjis weiter schreibt, das „absolute Gedicht Ä...Ü die Summe aller Wörter“ ist, braucht die Lyrik mitunter den Vortrag, um komplett zu sein. Es ist zu guter Letzt auch Klang, Rhythmus. Reizend babylonisch auch bei der internationalen Besetzung. Nur dass hier alle zuhören, auch wenn man beim besten Willen kein Wort Indonesisch oder Chinesisch versteht. Doch wozu gibt es Übersetzungen? Die tragen den inhaltlichen Eindruck vor oder nach.

So abgedroschen es auch klingen mag: Bandbreite ist das Zauberwort, das 21 Vortragende verbindet. Und es ist – nicht als Beliebigkeit missverstanden! – nicht der schlechteste rote Faden. Bilder entstehen. In den Köpfen der Zuhörenden, die bei allen viereinhalb Veranstaltungen eine faszinierende Konzentration an den Tag legten. Selbst dort, wo solches, wie vor der Bühne auf dem Marktplatz in der Sonne sitzend, nicht so selbstverständlich ist wie im Theater. Aber es entstehen auch Vortrags-Bilder. Etwa wenn das Aufblitzen einer Kamera Bruchteile von Sekunden lang den zackigen Schatten des Vortragenden an den Hintergrund der abgedunkelten Bühne wirft.

Nachdem Bürgermeister Henning Scherf, der auf seine Weise auch ein großer Performer ist, allen mindestens die Hand geschüttelt und Aridjis die Bühne verlassen hatte, sagt Said: „Gestatten Sie mir, mit etwas Verpöntem zu beginnen – einem Liebesgedicht.“ Und noch in den Lacher hinein poltert er los, einen Binnenreim an den nächsten reihend. Es folgen Thomas Kling, dem die Übersetzung eines Ezra-Pound-Gedichtes „arg wagnerianisch rüberkam“, so dass er die eigene Übertragung gleich um einen Zyklus zum Thema Hirsch und Diana erweitert. Scharfe, sperrige Worthäufungen sind es, hier vom Kölner Musiker Frank Köllges kongenial ins Perkussive verlängert. Und der McCartney-Spezi Adrian Mitchell lässt sich bei seinem „Back in the Playground Blues“ sogar vom Publikum unterstützen.

Tags drauf zweieinhalb Stunden Lyrik im beinahe voll besetzten Theater am Leibnizplatz. Dafür, dass das Publikum bis zum Ende mucksmäuschenstill und konzentriert geblieben war, erntete es zu Recht Lob von der Moderatorin Silke Behl, die mit knappen Porträtskizzen der Lesenden souverän durch den Abend geführt hatte. Den Anfang machte der im niederländischen Exil lebende Chinese Duo Duo, trotz der doppelten Doppelung im Namen, allein. Heute Abend solle es auch und vor allem um die Musikalität der Sprache gehen, hatte die Moderatorin in ihrer Einführung gesagt, und darum, „etwas zu verstehen, selbst wenn man nicht versteht, was gesprochen wird“. Wenn jemand die eingeblendeten Übersetzungen nicht lesen wollte, konnte er ja die Augen schließen. Bei Duo Duos weichem Singsang hätte dieser jemand vielleicht die Stille gesehen – „Über den Friedhof bewegt sich still eine Schafherde“, eine Zeile aus dem Gedicht mit dem programmatischen Titel „Die Stille“ – oder auch die Schafherde, man wüsste es nicht.

Als Kontrapunkt zu Joachim Sartorius und Clara Janés' alten Liebesgedichten dann der Südafrikaner Breyten Breytenbach, dessen Name schon ein Gedicht ist. Sehr politisch sind seine Texte, direkt und hart. Viel fucking, puking, shitting und killing, eine Lyrik der verschiedensten Körperflüssigkeiten und der Anklage südafrikanischer Verhältnisse. „To live is to burn“ – das erinnert an die Wut der angry young men Ginsberg und Kerouac. Der Zen-Priester Ko Un aus Südkorea, mit Anzug und Hornbrille äußerlich so harmlos wie ein japanischer Steuerbeamter, hatte es faustdick hinter den Ohren.

Seine Performance klang mal nach religiösem Gesang und mal nach dem Bellen eines wütenden Politikers, stets aber mit vollem Körpereinsatz. Die Sammlung „Zen-Gedichte – was 'n das?“ unterstreicht die dem Zen eigene Demontage des so genannten Erhabenen. „Buddha ist ein Stück Hundescheiße“, hatte einmal ein Zen-Meister auf die Frage seines Schülers geantwortet, was Buddha sei. Bei Ko Un heißt es: „Iss deine Schüssel Reis und scheiß“.

Abschlussmatinee. Alle bedankten sich nochmal artig bei den Organisatorinnen. Zu Recht. Wenn man den altmodischen Worten Brigitte Oleschinskis auch nicht unbedingt folgen muss, dass „Poesie, wenn sie den öffentlichen Raum betritt, immer noch politisch ist. Und nicht, wie manche meinen, Teil des Unterhaltungsgeschäfts“. Ach Gott, dabei sprechen doch die zahlreichen semantischen, klanglichen und poetischen Verzahnungen, die man bewundern dürfte, gerade gegen eine solch hochkulturelle Abgrenzung.

Immerhin gab es nochmals Hände voll gute Gedichte und einen Crashkurs in Sachen Dichter-Inszenierungen. Nicolai Kobus gab sich formbewusst und grüblerisch, die im Vortrag an Anne Clarks Sprechgesang erinnernde junge Britin Lavinia Greenlaw, die nach dem Politischen nicht zu fragen braucht, weil es sich wie selbstverständlich in dem wiederfindet, was sie tut – und das ist eben Dichten. Der Südafrikaner Lesego Rampolokeng spielte den Bad Guy: Mit Rap hätten seine Sachen nichts zu tun (was so auch wieder nicht stimmt) und er habe keine Lust, hier den „zivilisierten Affen“ zu spielen. Womit er die Anwesenden in ein schönes Dilemma brachte: Klatschen oder nicht? Drei Tage lang bewegen sich Dichter und (mit nach der krankheitsbedingten Absage Sarah Kirschs nur noch zweien) viel zu wenige Dichterinnen durch die Hansestadt. Ruhig die einen, ein wenig unsicher die anderen oder auch interessiert sich umschauend.

Alle tragen fast pausenlos ein weiß-grünes Buch mit sich, aus dem sie an unterschiedlichen Orten vortragen. Bis am Ende das Buch durchgelesen ist, sich Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche auf der einen, an unterschiedliche Performances auf der anderen Seite zwischen die Blätter schieben. Die trägt man nach Hause und schaut vielleicht ab und zu wieder hinein – bis man sich so oder ähnlich im nächsten Jahr wieder trifft.

Tim Schomacker/Tim Ingold