Lockruf am Eck

■ Junge KünstlerInnen ziehen an die Sielwallkreuzung: Mit Videos, Installationen und Performances beleben sie allabendlich gegen 21.30 Uhr den sozialen Brennpunkt

Die Haltestelle am Sielwall scheint für einen kurzen Abend weich gelandet zu sein. Auf der gesamten Schaufensterfront eines leer stehenden kleinen Ladens ziehen in ästhetisch-ruhigen Bildern Cummuluswolken vorbei. Ein augenfälliger und eigenartig poetisch anmutender Kontrast zur inzwischen wohl konfliktreichsten Haltestelle Bremens.

Die Videobilder stammen von Claudia Kapp, ihres Zeichens eigentlich Modedesignstudentin der Hochschule für Künste. Anfang des Jahres wagte sie einen produktiven Blick vom Modefach hinüber zur Filmklasse des Ateliers für Zeitmedien, nahm dort an einem Workshop mit den Videokünstlerinnen Madelan Hooykaas (Holland) und Elsa Stansfield (Schottland) teil. Das Resultat der Grenzgängerin: eine Art aktuelle Galerie für junge Kunst, dies an einem sozialen Brennpunkt, der zumal der breitesten Öffentlichkeit bekannt und zugänglich ist.

Zu diesen sozialen Problemen gesellt sich der bereits eingetretene kommerzielle Niedergang. Erst zogen zwei alternative Mode- und Schmuckgeschäfte fort, nun gab auch der letzte größere Kiosk auf, in den Schaufenstern der schon hilflos wirkende Aufruf: „zu vermieten“!

„Bei der Suche nach einem schnell zugänglichen Raum war der verlassene Laden ideal“, sagt Kapp. Hilfreich vermietete der Besitzer den Raum für eine symbolische Mark zur Zwischennutzung. Positiv ist für Kapp, dass „es keine gestelzte Kunst-Atmosphäre und kaum Hürden gibt, etwas zu zeigen“.

Der Ort als Zuspitzung ungelös-ter Konflikte reizte inzwischen gut ein Dutzend weitere junge Kunstschaffende aus Hamburg und Bremen zur direkten Auseinandersetzung. Denn „diese Reibungspunkte sind anders und stärker als typische weiß getünchte Kunsträume, es ist schwerer zu sagen was einen erwartet“, erzählt Kapp. Sie selbst zeigte sich anfangs etwas überrascht von „der immer stärker werdenden Ausstellungsdynamik und Nachfrage innerhalb der Kunstszene, sich ohne Entgeld an diesem Ort zu engagieren.“

Berührungsängste oder Reibungspunkte zwischen KünstlerInnen und der Sielwallszene gibt es bisher nicht, „im Gegenteil“, erzählt die ursprünglich aus Freiburg im Breisgau stammende Studentin mit einem leichten melodischen Zungenschlag. Das Klima sei entspannt und teils von beiderseitigem Interesse geprägt.

Hiesige Politik und nahezu alle BewohnerInnen des Viertels lassen hingegen beim Sielwall in einer Art Voyeurismus auf Bremisch alles beim Bewährten: Die dauerhafte Verelendung der „Junkies“, die Drogengewinne der organisierten Kriminalität, Geschäftsaufgaben am Sielwall, junge heroinabhängige Frauen prostituieren sich gleich zwei Straßenzüge weiter in der Humboldtstraße, alle regen sich ein bisschen auf – und schauen zu.

Die Form des künstlerischen „Lockangebots“, sich diesem aufgegebem Ort, erneut zu nähern, ist ein bemerkenswerter Beitrag der Kunst und eine zumindest aktuelle Diskussions- und unentgeltliche Erfahrungschance.

Was genau am jeweiligen Abend dort zu sehen sein wird, wissen die BesucherInnen im Vorfeld nicht, und außer einem kleinen Zettel wird keinerlei Werbung im herkömmlichen Sinne gemacht.

Anfangs noch ohne Namen, ist nun der kleine Schriftzug „Fortwährend“ ein Verweis und Programm zugleich für weitere zwei Wochen, an dem jeden Abend wechselnde KünstlerInnen tätig werden – bisher fortwährend.

kris. kupka

Programm abends ab 21.30 Uhr direkt an der Straßenbahnhaltestelle Sielwall