„Man muss sich auf dieser Erde frei bewegen können“

Wie will Madjiguène Cissé (48) leben? Für die Sprecherin der französischen Sans-papiers stellt sich diese Frage so gar nicht – für sie und die von ihr vertretenen MigrantInnen geht es darum, überhaupt leben zu können. Und zum Leben gehören Essen, Medikamente, Ausbildung und Reisefreiheit – mindestens

Interview ONUR SUZAN KÖMÜRCÜ
und EDITH KRESTA

taz: Willkommen in Berlin! Zum taz-Kongress, zu dem Sie geladen waren, durften Sie nicht einreisen. Wie hat es nun doch geklappt?

Madjiguène Cissé: Durch das dankenswerte Engagement vieler Menschen hier. Man muss sich doch auf dieser Erde frei bewegen! Für dieses Recht auf freien Verkehr werde ich immer kämpfen. Dass ich heute nach Europa fliegen darf oder in den Senegal, wo ich Freunde, Familie habe, wo ich Veranstaltungen mache oder was auch immer. Europäer haben dieses Problem nicht!

Wie wollen Sie leben?

Die Frage, die wir uns in Afrika stellen, ist, ob wir überhaupt überleben dürfen! Wir wollen einfach leben. Das heißt für mich, dass die Leute, die heute nicht genug zu essen haben, zu essen bekommen. Das heißt, dass Kranke ihre Genesung bezahlen können. Dass die Kinder, die heute wegen ihrer Armut nicht zur Schule gehen, lernen können und die, die zur Schule gehen, unter guten Bedingungen lernen können. Dass die Leute, die Arbeit suchen, Arbeit finden können. Wenn wir das hätten, käme spontan das Recht auf freien Verkehr. Wären wir heute so reich wie Frankreich, dann würde uns Frankreich oder Deutschland seine Grenzen nicht verschließen. So wollen wir leben!

Sie haben im Senegal, Frankreich und in Deutschland gelebt. Sie sprechen ihre senegalesische Muttersprache, Französisch und Deutsch. Sind Sie der Prototyp des flexiblen Menschen?

Ja, und ich fühle mich eher bereit für Europa als viele Europäer. Auch meine zwei Töchter studieren in Europa. Mein Sohn ist erst 15 und geht in Dakar zur Schule. Die ganze Familie spricht Deutsch.

Gibt es einen Mann?

Ja. Er ist Professor für Germanistik und bildet Deutschlehrer an der Nationalen Pädagogischen Hochschule von Dakar aus.

Wann und wo haben Sie Deutsch gelernt?

Am Gymnasium. 1972 finanzierte die BRD eine deutsche Abteilung an der Universität Dakar, wo ich Germanistik studierte. Danach hatte ich ein Stipendium für die Uni Saarbrücken. Dann ging ich zurück nach Dakar und arbeitete dort als Lehrerin.

Sie sind Lehrerin, kommen aus der Mittelschicht . . .

. . . das ist schon alles spießbürgerlich, nicht wahr?

. . . und Sie sind die Ikone der französischen „Sans-papiers“-Bewegung. Wo kommt Ihre Kraft her?

Alle Frauen haben diese Kraft. Sie kommt aus der Überzeugung, die man hat, wenn man etwas verteidigen will. Und die Überzeugung kommt in einem armen Land sehr früh. Ich habe mich immer gefragt: Warum sind die Leute um mich herum so arm, obwohl sie arbeiten. Ich selbst komme aus einfachen Verhältnissen: Mein Vater war Busfahrer, meine Mutter Hausfrau. Die Eltern meines Mannes waren Bauern.

Wie kam es, dass Sie zur Universität gegangen sind? Hatten Sie ein Stipendium?

Nein. Die Eltern haben uns zur Schule gebracht, und dann haben wir fleißig gelernt. Es war nicht einfach. Ich erinnere mich, von den 50 Kinder der Grundschule sind nur 6 aufs Gymnasium gegangen. Alle anderen haben früher aufgehört.

Ist das Ihrer persönlichen Disziplin geschuldet?

Ja. Und weil man sieht, wie die Eltern leben, und sich sagt: Wenn ich gut studiere dann werde ich die Lage der Eltern ändern.

Sie sind 1994 mit Ihrer Tochter nach Frankreich gegangen. 1996 wurde Sie Sprecherin der Sans-papiers-Bewegung. Was für Forderungen stellt die Bewegung konkret?

Dass Europa die Migranten und Flüchtlinge, die hier leben, legalisiert. Man weiß, dass sie in unmöglichen Situationen leben, aber trotzdem macht man die Augen zu. Diese Situation sollte geändert werden. Die Forderung der Sans-papiers war es nicht, Staatsbürger zu werden. Die Forderung war, eine gültige Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Das erlaubt uns, in Frankreich zu leben und zu arbeiten, und schützt uns davor, drastisch ausgebeutet zu werden. Ich bin Afrikanerin, und mir reicht mein afrikanischer Pass.

Wie reagierten andere „etablierte“ Migrantengruppen auf die „Sans-papiers“?

Verschieden. Einige haben unserer Meinung nach schlecht reagiert, weil sie vergessen, das sie selbst Sans-papiers gewesen sind. Die sagten: Wenn sie keine Papiere haben, warum bleiben sie hier, warum gehen sie nicht zurück? Es gibt sogar Afrikaner, die so dachten. Aber die meisten Ausländer haben uns unterstützt. In unseren Unterstützerkomitees waren auch Organisationen von ehemaligen Migranten wie die Association de maroccaine en France oder die Association de travailleur turque en France.

Gab es einen Konflikt zwischen Schwarzen und Weißen?

Ja. Am Anfang hat es Probleme in den Kollektiven gegeben, die wir je nach Wohnungssitz gebildet hatten – in Paris, in Lille, in Marseille. In jedem Kollektiv trafen sich Menschen aus verschiedenen Ländern. Wir haben es nicht akzeptiert, dass sich Leute nach Herkunftsländern organisieren. Die Kollektive waren offen für alle Sans-papiers. Da trafen sich zum Beispiel in einem großen Pariser Kollektiv Schwarzafrikaner, Maghrebiner und Asiaten. Am Anfang kann man sogar von Rassismus sprechen. Da haben wir mit den Leuten gesprochen. Ausgrenzung innerhalb der Kollektive war nicht tolerierbar.

Sehen sie für MigrantInnen große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland?

Ja, sehr viele sogar. Was wir in Frankreich geschafft haben, ist schwer hier in Deutschland zu wiederholen. In Frankreich ist es uns gelungen, eine große Aktionsbewegung zu schaffen. Die französischen Medien haben dabei sehr geholfen. Wir hätten von allein nicht die Mittel gehabt, die große Sensibilisierung zu schaffen.

Und die Bevölkerung?

Wir wurden von allen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Die Bewegung besteht nun seit fünf Jahren, das ist eine große Aktion. Hier in Deutschland ist es viel schwieriger, eine so große Aktion zu starten,weil die Gesetze anders sind.

Welche Gesetze?

Vor allem wegen der hier geltenden Residenzpflicht ist es schwieriger, eine solche Bewegung zu organisieren. Wenn die Flüchtlinge nicht aus Bayern, Hessen oder einem anderen Bundesland raus dürfen, dann ist es schwer für sie, eine bundesweite Kampagne durchzuführen. Der zweite Unterschied ist, dass wir in Frankreich fast alle frankophon sind. Die Sprachbarriere gibt es nicht. Das macht alles einfacher.

Viele vertreten die These, dass Nationalstaaten die Migration regulieren müssen, um ihre Arbeitsplätze und ihr Sozialsystem zu schützen. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine These, die hier immer mehr vertreten wird. Vor allem von Leuten, die in Regierungsparteien sitzen. Dieselbe These gibt es auch in Frankreich. Ich meine, der Nationalstaat wird nicht so lange durchhalten. Meine Frage ist, was ist der Nationalstaat denn noch durch die Globalisierung. Er verliert immer mehr an Macht. Was bedeutet Nationalstaat, wenn multinationale Konzerne die Weltwirtschaft kontrollieren? Immer mehr Leute werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ausländer, aber auch immer mehr europäische Bürger.

Fordern Sie offene Grenzen?

Das war die Forderung eines Teiles der Sans-papiers. Die Leute haben immer argumentiert, wenn man die Grenzen offen lässt, dann kann man die Lage nicht mehr kontrollieren, da kommen alle durch, Drogenhändler und so weiter. Das ist ein Argument gegen freien Verkehr. Ich teile diese Meinung nicht, denn der freie Verkehr ist ein Grundrecht für Menschen.