„Ein organisches Chaos“

Der Rhythmus des Ostens: Die Sängerin Natacha Atlas über das Pendeln zwischen Okzident und Orient, den Straßenverkehr in Kairo, die Tanzwut arabischer Frauen und ägyptisches Timing

Interview MAX DAX

Frau Atlas, Sie haben fast ein Jahr in Kairo gewohnt und Ihr neues Album dort aufgenommen. Bedauern Sie es, jetzt wieder in London zu leben?

Nein. Mein ganzes Leben besteht seit Jahren fast nurmehr aus Reisen. Ich habe Kairo aber alle neuen Songs zu verdanken, habe dort meinen Kopf freibekommen, die Ideen für das Album entwickelt und alles auf den Weg gebracht. „Ayeshteni“, der arabische Titel des Albums, bedeutet ins Deutsche übersetzt: „Du gibst Leben“. Das darf gerne auf Kairo bezogen werden und dieses spezifisch arabische Umfeld, das dem Album sein Leben gegeben hat.

Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Musik tanzbar ist?

Ich denke, dass die meiste Musik auf der Welt aus genau diesem Grunde produziert wird. Meine Musik nun hat diesen speziellen Rhythmus, der arabische Frauen zum Tanzen animiert.

Warum speziell die?

Das ist einfach das, was ich von der Bühne aus erkennen kann. Wenn ich in Frankreich spiele, wo ich mein größtes Publikum habe, dann ist da immer ein guter Teil Araber dabei. Und die arabischen Frauen sind immer die Ersten, die zu tanzen beginnen. Immer, da gibt es keine Ausnahme.

Wie normal ist es für Sie eigentlich, nach Ägypten zu reisen? Sie haben ja familiäre Verbindungen dorthin.

Sagen wir es einmal so: Wenn ich in Kairo eintreffe und die Hitze, die Gerüche, die Sprache und die Hektik um mich herum spüre, bin ich nicht überrascht, so wie andere Menschen vielleicht überrascht sind. Als ich kürzlich zum ersten Mal einige Wochen in Athen verbrachte, war das anders: Ich empfand die Stadt als fremd, trotz ihrer Nähe zum Nahen Osten – in der Musik, im Essen, in der Mentalität. Aber die Kultur der Griechen ist so alt wie die Ägyptens. Das merkt man unter anderem an den Taxifahrern – die haben mich an Kairo erinnert.

Sie fahren in Kairo nicht selbst Auto?

Oh nein! Der Verkehr ist der dichteste der Welt. Ich habe einen Fahrer. Er ist ein sehr guter Fahrer. Aber hin und wieder bekommt er Schaum vorm Mund.

Schaum vorm Mund?

Ich nenne das „Road Rage“. Er liebt seinen Job. Aber hin und wieder legt er sich mit anderen Autofahrern an: Fahrern, denen er unterstellt, dass sie ihm nicht genug Freiraum lassen, sich dazwischendrängeln. Dann muss ich ihn immer zurückpfeifen.

Der Kairoer Autoverkehr hat etwas von einem Chaos, das sich selbst speist, das aus sich heraus lebt, ein sich selbst genügendes Chaos. Fast wundert es einen, dass sie überhaupt Ampeln gebaut haben.

Die haben immerhin ein Vermögen gekostet, aber niemand hält sich dran. Und niemand, der sich nicht daran hält, wird dafür belangt. Trotzdem werden sie nicht ausgeschaltet.

Ich glaube, ein Befolgen der Verkehrsregeln würde in Kairo zum völligen Stillstand führen. Der Verkehr in Kairo hat etwas Organisches: Aus den kleinen Gassen fließen kontinuierlich Autos und Laster in die großen Verkehrsströme. Und alle hupen sie. Unterschiedlich laut, unterschiedliche Tonhöhen. Es ist wie ein Puls. Und die Hupen wirken auf mich immer, als würden sie miteinander reden: So wie fast alle Ägypter gerne reden und gerne laut sind, das ist eine Frage der Mentalität und des Temperaments. Sie sitzen also in ihren Autos und kommunizieren über ihre Hupen:

ICH – WILL – HIER – DURCH – ! – MACH – DASS – DU – WEG – KOMMST – ! – WA – RUM– LÄSST – DU – MICH – NICHT – DURCH – ?

Das ist die Symphonie der Großstadt?

Yeah! Und es hört nicht auf! Bis tief in die Nacht, bis fünf Uhr morgens geht das so. Es mag für eine Stunde leiser werden, vielleicht für zwei Stunden sogar ruhig sein. Und dann geht’s wieder los, dieses Chaos. Herrlich!

Auch, wenn man Arbeit zu erledigen hat?

Also, ich erinnere mich an Momente, in denen ich mit meinem Fahrer mitten in diesem Chaos im Auto saß, und wir uns anguckten und die Schultern zuckten. Wir sind dann immer zu einem der Autocafés gefahren, wo den Fahrern Tee oder etwas zu Essen ans Auto gebracht wird. Der gesamte Verkehr kommt an diesen Orten zum Stillstand, weil sich alle Fahrer von den Kellnern auf kleinen Tabletts Vorspeisen bringen lassen. Frischer Mangosaft ist besonders lecker. Die Kellner balancieren ihn durch fünf Autoreihen hindurch, das Glas mit dem Mangosaft auf dem Tablett. Für mich ist das eine ganz teure Erinnerung. Ich werde nostalgisch, wenn ich daran denke.

Was die Arbeit anbetrifft, so ist es eine Frage der Einstellung, wie man damit umgeht, wenn man im Studio Termine mit Musikern hat, und sie tauchen einfach nicht auf. Es vergehen Stunden, die man alleine im Studio hockt, weil sich niemand an die Termine hält. Ich habe mir deswegen angewöhnt, selbst meistens zwei, drei Stunden zu spät zu kommen, und dabei kein schlechtes Gewissen zu haben.

Ein anderer Rhythmus?

Ja, so könnte man es nennen. Man kann nicht durch Kairo spazieren und erwarten, dass alles auf die Minute genau funktioniert wie in Europa – das ist definitiv der falsche Ansatz. In England komme ich zu den Proben nun allerdings auch immer zwei Stunden zu spät. Die anderen wissen das, und kommen deswegen auch später. Am Ende treffen wir alle fast zeitgleich im Studio ein – Stunden, nachdem wir uns verabredet hatten. Es funktioniert auch so, wie man sieht. Egyptian Timing nenne ich das.