„Die Zusammengehörigkeit ist wichtiger“

Justus Veenman, Wirtschaftssoziologe an der Erasmus-Universität Rotterdam, über die Gründe für den Rückzug junger Molukker aus der niederländischen Gesellschaft, über Leistungsverweigerung, eigene Werte und Radikalisierung

taz: Herr Veenman, von allen Einwanderergruppen in Holland müssten doch die Molukker am ehesten „angekommen“ sein. Wie erklären Sie sich, dass die Integration der dritten Generation stagniert?

Justus Veenman: Aus der Sicht unserer Leistungsgesellschaft mangelt es vielen jungen Molukkern nicht nur an Ausbildung, sondern auch an der nötigen Ambition, „es zu etwas zu bringen“. 85 Prozent kommen über einen Haupt- oder Realschulabschluss nicht hinaus. Es gibt unter ihnen zwar nur wenig Arbeitslose, aber oft begnügen sie sich mit anspruchslosen Jobs. Junge Molukker, die sich in der Schule wie auf dem Arbeitsmarkt mit wachsendem Leistungsdruck konfrontiert sehen, nehmen diese Herausforderung nicht an, sondern signalisieren oftmals, dass ihnen an Ausbildung und Karriere nichts liegt. Der dritten Generation scheint Erfolg in Schule und Beruf weniger wichtig zu sein als das Zusammengehörigkeitsgefühl in der eigenen Volksgruppe. Sie verweigert sich dem „rat race“.

Besteht ein Zusammenhang zwischen Ausbildungsdefizit und Erziehung im Elternhaus?

Ja, der Einfluss der Familie ist auch heute noch sehr groß. Und da zu Hause Ambonesisch gesprochen wird, ist die logische Folge eine Übertragung mäßiger Holländischkenntnisse von einer Generation auf die nächste. Das wiederum zementiert ein Defizit gerade jener Kompetenzen, die in unserer Gesellschaft am meisten zählen. Individuelles Fortkommen, auf eigenen Beinen stehen, Werte, die bei uns hoch im Kurs stehen, sind schon den meisten Älteren bis heute fremd geblieben. Bewusst oder unbewusst zieht nun auch die dritte Generation die „alten“ Werte jenen vor, die sie an der westlichen Gesellschaft nicht attraktiv findet.

Welche Werte sind das?

Sie klammern sich stark an Werte wie Familie, Freundschaft, Gemeinsinn und ein geruhsameres Lebenstempo. Das sind die typischen Merkmale molukkischer Kultur. Westliche Elemente wie Leistung, Wettbewerb und Selbstständigkeit werden den Maßstäben der eigenen Kultur untergeordnet. Mit sozialökonomischer Integration in eine Industriegesellschaft ist das nun mal nicht zu vereinbaren. Begünstigt wird dies dadurch, dass Molukker auch heute noch in relativ geschlossenen Verbänden leben, wo sie im Schoß der Gesellschaft eine Gemeinschaft instand halten, die auf Gehorsam und Respekt vor Älteren basiert.

Ist das eine Rückbesinnung aus freien Stücken oder reagieren sie damit auf Bevormundung oder Diskriminierung?

Ersteres. In Schule und Beruf fühlen sich junge Molukker nicht benachteiligt oder diskriminiert. Das unterscheidet sie von der Generation ihrer Eltern, die das Wort Diskriminierung ständig im Munde führten. Grund für Ärger gibt es eher im Privaten, etwa wenn ihnen der Zutritt zu einer Disco verwehrt wird mit dem Argument, es seien schon zu viele „Ausländer“ drinnen. Nichts kränkt sie mehr, als mit anderen ethnischen Minderheiten in einen Topf geworfen zu werden. Sie halten sich für etwas Besseres.

Schließt die Abkehr von der Gesellschaft die Möglichkeit einer Radikalisierung ein, wie sie in den Siebzigerjahren für die zweite Generation kennzeichnend war? Immerhin haben Aktivisten jüngst damit gedroht, Züge zu sprengen und Premier Kok zu entführen, sollte er sich nicht für eine Beendigung des gewalttätigen Konflikts zwischen Christen und Muslimen auf den Molukken einsetzen.

Bei meinen Gesprächen mit jugendlichen Molukkern habe ich von einer Tendenz zur Radikalisierung nichts bemerkt. Wenn es um Identität geht, bringen die meisten zum Ausdruck, dass ihnen die gemeinsame Sprache, ihre Geschichte, ihre Kultur wichtig sind. Von einem verbindenden politischen Ideal, wie die Freie Republik der Südmolukken (RMS) für die Älteren eins war, ist kaum die Rede.

Was machen die Jugendlichen mit ihrer Wut über die Gewalt zwischen Muslimen und Christen auf den Molukken?

Natürlich berührt die Tatsache, dass im Dorf ihrer Großeltern womöglich Angehörige ermordet werden, die jungen Molukker ebenso wie die alten. Von einer Radikalisierung im Sinne einer Schuldzuweisung an die niederländische Regierung wie bei den Militanten der Siebzigerjahre jedoch habe ich nichts bemerkt. Sicher, es gibt ein Häuflein Aktivisten, die der Regierung drohen. Auch zeigen einige Molukker dafür Verständnis. Aber die Mehrheit verurteilt derlei Verbalradikalismus. Sie weiß, dass für die Überrepräsentanz von Muslimen auf dem früher mehrheitlich christlichen Ambon nicht Den Haag, sondern Jakarta die Verantwortung trägt. Und kaum einer in der Community möchte die Holländer noch einmal so gegen sich aufbringen wie in den Siebzigerjahren.

„Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität“ ist also, was die Molukker angeht, fehlgeschlagen. Was jetzt?

Wir müssen umdenken. In der Bildungspolitik wurde ab der zweiten Generation versucht, Molukkern Chancengleichheit zu ermöglichen. Löblich, aber zu einseitig. Bildung und Erziehung müssen so reformiert werden, dass der kulturelle Hintergrund wirklich zählt. Nur so lassen sich Chancenarmut und Abkehr bekämpfen. INTERVIEW: HENK RAIJER