Destination Cern

Besuch bei einem Experten für Antimaterie

von GABRIELE GOETTLE

Rolf Landua, Dr. rer. nat., Physiker am Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) in Genf. Leiter des Athena-Experimentes zur Synthese von Antimaterie-Atomen. Studium der Physik an der Universität Mainz, Diplom 1978 („Energieanalyse gespeicherter Elektronen“). Dissertation 1980 („Untersuchung von Kaskadenprozessen in exotischen Atomen“). 1980–1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter d. Univ. Mainz am Asterix-Experiment am CERN. 1982–1985 CERN Fellow, 1985–1986 Gruppenleiter der Universität Mainz. Seit 1987 Forschungsphysiker am CERN. 1990–1991 Koordinator des Forschungsprogramms am Lear (Low Energy Antiproton Ring) seit 1992 Leiter der Arbeitsgruppe „Antiprotonen“. Seit 1999 Leiter des Athena-Experimentes (Antihydrogen Apparatus). Mehr als hundert Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Hauptarbeitsgebiete: antiprotonische Wasserstoffatome. Antiproton-Nukleon Anihilation, Mesonspektroskopie, Produktion und Spektroskopie von Antiwasserstoffatomen. Mitglied div. wissenschaftl. Komitees: 1989–1999 am CERN (PSCC und SPSC); seit 1999 FZ Jülich (Cosy Speicherring). Zahlreiche öffentliche Vorträge sowie Radio- und Fernsehbeiträge zur Popularisierung der Teilchen- und Astrophysik. Wissenschaftlicher Leiter verschiedener populärwissenschaftlicher Projekte des CERN, darunter Live-Programme a. d. Internet (Web Casting) üb. d. Thema „Antimaterie“. Leiter d. Projektstudie für ein neues Besucherzentrum am CERN: Big Bang Discovery-Center (zwecks Veranschaulichung d. Zusammenhänge zw. Mikro- und Makrokosmos). Rolf Landua wurde 1954 in Wiesbaden geboren und ist allein erziehender Vater von drei Kindern.

CERN, das europäische Laboratorium für Teilchenphysik, ist ein seltsam mystischer Ort. Er ist derart unbekannt, dass die meisten Bürger der europäischen Mitgliedsstaaten mit dem Namen absolut nichts anzufangen wissen. Diese Denk- und Experimentierfabrik – ein Mekka für die Physikerelite aus aller Herren Länder – ist das größte Forschungszentrum für Teilchenphysik weltweit und verfügt über ein Milliardenbudget. Es ist ein europäisches Gemeinschaftsprojekt und wird von den mittlerweile 19 Mitgliedsländern aus Steuermitteln finanziert. 7.000 Forscher und Techniker aus 83 Nationen beherbergt CERN als arbeitende Gäste und Stipendiaten. Der Forschungsgegenstand selbst ist 15 Milliarden Jahre alt. Die zentralen Fragen sind: Was ist Materie? Wo kommt sie her? Warum existiert die Masse als solche? Was geschah in den ersten milliardstel Bruchteilen einer milliardstel Sekunde vor fünfzehn Milliarden Jahren? Was ist das Geheimnis des Universums und der Ursprung unserer Welt? Es geht um nicht mehr und um nicht weniger als um die Suche nach der Weltformel. Die Forschungsinstrumente sind lineare und ringförmige Beschleunigeranlagen und ihre Detektoren. Der umfangreichste Beschleuniger des CERN, der LEP (Large Electron Positron Collider), liegt hundert Meter unter dem Erdboden in einem 27 Kilometer langen Tunnelring, teils unter Schweizer, teils unter französischem Staatsgebiet. In diesem unterirdischen Tunnel wurden die Elementarteilchen – Elektronen und ihre extra für diesen Zweck hergestellten Zwillinge aus Antimaterie, die Positronen – in gegenläufiger Richtung mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch eine luftleere Metallröhre geschossen. Das Ziel war, einige davon zur Kollision zu bringen und bei diesem Vorgang andere und neue Partikel entstehen zu lassen. Aufs Genaueste gemessen und untersucht wurde das Ergebnis mit Hilfe gigantischer Detektoren, Aleph, Delphi, L3 und Opal, in deren Zentrum sich die Kollisionen vollzog. Die Teilchenkollisionsexperimente dienen dem Versuch, vorzudringen ins Innerste der Materie, zum Urknall, zum Ursprung von Raum und Zeit. Da aber die Natur vorgibt, wie Heisenberg schon vor 70 Jahren feststellte, dass je kleiner das zu messende Teilchen, umso größer die Messanlage sein muss, ist im CERN bereits das nächstgrößere Modell im Bau, der LHC (Large Hadron-Collider). Er wird in den Tunnelring des LEP eingebaut, soll 2005 fertig sein, drei Milliarden Mark kosten und wird angeblich unsere Vorstellungen vom Universum stark verändern.

CERN liegt am Fuße des Juragebirges, nordwestlich von Genf, am Rande des Ortes Meyrin, im schweizerisch-französischen Grenzgebiet. Mit dem Bus Nummer 9 fährt man ab Bahnhof Genf etwa 40 Minuten vorbei an Stadtrandsiedlungen und abblätternden weißen Schlafstädten, die aussehen wie französische Ferienanlagen. Dazwischen vereinzelte Schulen, Sportplätze und Einkaufszentren. Schwarze Frauen steigen ein und aus, Mütter mit kleinen Kindern, alte Leute. Es regnet heftig. Auf der Haltestellenanzeige vorn am Führerhaus gleitet in Laufschrift „Destination Cern“ vorbei. Außer uns ist kein Fahrgast mehr im Bus. Die Rezeption liegt in einem unauffälligen grauen Flachbau und erinnert mehr an die Talstation einer Seilbahn als an den Besuchereingang des CERN. Andenken werden verkauft, hässlich bedruckte Krawatten und T-Shirts, Anstecker, Poster, Lektüre und Ansichtskarten. Eine älteres Modell soll die Zusammenhänge ein wenig veranschaulichen, dazu gibt es kostenlos farbige Hochglanzfaltblätter mit den wesentlichsten Informationen über CERN in französischer, italienischer, englischer und deutscher Sprache, die mehr als ein Minimum an Kenntnissen voraussetzen. Im Gästebuch finden sich kritische Anmerkungen zur mangelhaften Vermittlung. Einer schrieb: „Fellatio gefällt mir besser“, andere: „Nix verstehn!“

Dr. Landua, der uns sehr herzlich empfängt, kennt die Eintragungen nicht, ist aber wenig überrascht: „Ich arbeite gerade an diesem Projekt, an einem Besucherzentrum, das die wissenschaftliche Arbeit des CERN adäquat vermittelt, wir haben es hier unserem Direktorium vorgeschlagen, leider gibt’s da noch gewisse Hemmungen, aber wir arbeiten daran!“ Kurze Zeit später sitzen wir in der großen Kantine. Sie ist innen weiträumig, hat mehrere offene Zonen, ist verglast und licht. Die verschiedenen Büfetts bieten die delikatesten Speisen, viel Gesundes, Frisches ist zu sehen. Mir fällt das Gerücht ein vom CERN-Wissenschaftler, der vor seinem Computermonitor an Skorbut erkrankt oder gar gestorben sein soll. Dr. Landua lacht, er weiß nichts davon, hält ein außergewöhnliches Maß an Besessenheit aber durchaus für möglich. Ringsum an den Tischen sitzen auf bequemen Formholzstühlen junge und ältere Wissenschaftler, meist leger gekleidet, in kleinen Gruppen plaudernd beisammen. Hier versammelt sich sozusagen das Gesamtgehirn des CERN, kommuniziert, tauscht aus, vernetzt sich oder ist einfach nur mit dem letzten Skiurlaub oder den Börsenkursen befasst. In der Mitte, in einem verglasten Atrium, steht ein anmutiger Magnolienbaum und ist kurz davor aufzublühen.

Herr Dr. Landua setzt die Tasse ab, sein weiches Gesicht strafft sich, er lächelt und beginnt zu erzählen: „Das ist immer das Problem, die Veranschaulichung. Wir beschäftigen uns hier mit Dingen, die der Sinnenwahrnehmung nicht mehr zugänglich sind. Kein Mensch hat je ein Teilchen gesehen, wir wissen nicht, wie sie aussehen, sage ich mal, wir wissen nur, sie sind kleiner als 10 hoch minus 18, das ist ein Millionstel von einem milliardstel Meter. Und das können wir messen. Die Messerei hat schon was für sich, denn sie erlaubt, dass man zuverlässig und objektiv Dinge vergleichen kann . . . Sicher, die Interpretation ist dann wieder was anderes. Im Prinzip gibt es ja viele Wege, man kann den Ursprung des Universums mit einer Schildkrötentheorie erklären, wie sie zum Beispiel in der indischen Philosophie eine Rolle spielt, die jeweils kleinere Schildkröte steht auf der größeren, aber sehr viel weiter kommt man damit nicht. Es erklärt nicht, weshalb die Galaxien sich von uns entfernen und warum es Hintergrundstrahlung gibt und so weiter.Und wir hier packen es eben anders an, wir fangen mit dem Big-Bang-Modell an, mit der Annahme einer sehr sehr heißen Anfangsphase. Überraschenderweise stellten wir fest, dass wir mit einem Minimum an Annahmen ein Maximum an Messungen erklären konnten. Das ist für einen Wissenschaftler angenehm. Das Ziel ist ja, mit möglichst einfachen Annahmen die Dinge zu erklären, unsere Sehnsucht gilt der Simplizität. Besonders in der Kosmologie, denn in der Tat, unser Universum scheint extrem einfach zu sein. Das hat sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren herausgestellt, dass der Ursprung der Welt und der Aufbau der Materie sehr simpel zu sein scheint. Es gibt nur vier Teilchen, die eigentlich für uns wichtig sind – und alles ist aus diesen Teilchen gemacht.“

Dr. Landua grüßt einen vorbeikommenden älteren Herrn und fährt fort: „Wir haben das sehr genau gemessen, noch mit dem LEP, unserem letzten Beschleuniger, den wir vor kurzem abgestellt haben. Es gibt ein Teilchen, das hat die Möglichkeit, in alle anderen Teilchen zu zerfallen, das ist dieses berühmte Z[0]Teilchen. Der LEP wurde zum großen Teil deshalb gebaut, um dieses Teilchen produzieren und seine Eigenschaften studieren zu können. Man hatte eine bestimmte Theorie, und die hat man mit sehr hoher Präzision verifiziert, eine dieser Voraussagen war die, dass es nur diesen Grundbausatz von vier Teilchen gibt. Er besteht aus zwei leichten Teilchen, die Elektronen und die Elektron-Neutrinos und zwei schweren Teilchen, die heißen Quarks: Up-Quarks und Down-Quarks. Das Interessante ist, die werden noch zweimal wiederholt in der Natur, die Materie präsentiert sich in noch zwei Varianten, es gibt eine schwerere und eine ultraschwere Version von diesem Bausatz aus vier Teilchen. Und außer, dass sie sich in ihrer Schwere voneinander unterscheiden, sind diese drei Teilchenfamilien nach ihrer Eigenschaft und Struktur absolut identisch. Wir wüssten gern, weshalb es genau drei davon gibt, wir wissen es nicht. Was wir zum Beispiel wissen ist, dass alles, was wir sehen können – dieser Kaffee hier und auch wir selbst – besteht nur aus diesem leichten Bausatz, die schwereren braucht man überhaupt nicht, die brauchte man nur am Anfang des Universums kurz. Aber wenn die nicht existieren würden, würde die Welt ganz anders aussehen. Und damit bin ich eigentlich bei dem angekommen, was wir jetzt tun, wir simulieren die Anfangsphase, bewegen uns auf den Urknall zu. Genauer gesagt, wir sind sozusagen, ungefähr auf der Zeitskala gemessen, bei einer milliardstel Sekunde nach dem Urknall angekommen. Für Physiker ist das ziemlich viel. Wir denken ja meistens in Skalen und da kommen diese Zehnerpotenzen ins Spiel. Das heißt, bei 10[-9]ists noch relativ wenig, wenn man es vergleicht mit 10[-43], was ja die Anfangszeit ist, wo wir quasi denken, dass was Wichtiges passierte, die Entstehung des Universums. In dieser Zeitskala hat sich der Übergang vollzogen, von einem Zustand des Nichts, wenn man so will, zu einem Zustand, der irgendwie näher an unserem Universum ist. Man nennt das die Planckzeit. Das ist der kürzestmögliche Zeitraum, den man sich überhaupt vorstellen kann, ohne dass man quasi in Widerspruch zur Quantenphysik kommt.“

Auf die Frage, was vor dem Urknall war, bildet sich ein energisches Grübchen in Dr. Landuas Wange: „Es gibt Theorien und Hypothesen, aber ich muss ehrlich sagen, wir wissen es nicht. Die momentan populärste Theorie geht von einer Art Vakuum aus . . . Dieses Nichts kommt ja in vielen Mythen der Menschheit vor, man muss das ernst nehmen. Aber das Vakuum hat ja merkwürdige Eigenschaften, es ist nicht leer, sondern wir wissen, dass dauernd aus dem Vakuum kleine Paare von Teilchen und Antiteilchen herauspoppen und dann gleich wieder verschwinden. Und wenn man auf der Zeitskala geht bis 10-[43], da können sogar kleine ,black holes‘ sozusagen aus dem Vakuum herauskommen und gleich wieder verschwinden. Wir nennen das Vakuumfluktuation. Ich erzähle das ohne Hemmungen, weil man den Effekt tatsächlich messen kann. Aber um zu dem zurückzukommen, was ich meinte. Wenn man’s zurückverfolgt, es steckt alles logisch drin in den Naturgesetzen, die irgendwie entstanden sind bei riesigen Energien – die wir im Labor bei weitem nicht reproduzieren können. Wir wissen nicht, was die Struktur von der Raum-Zeit ist . . . Was jetzt im Einzelnen vorgeht, wenn sich Energie in Materie verwandelt, das wissen wir auch nicht, wir kennen nur die Gesetze, die da befolgt werden. Und da kommen wir auf das, was manche Leute anthropisches Prinzip nennen, dass eben die Naturgesetze so beschaffen sind, dass am Schluss biologische Evolution stattfindet, und dass diese biologische Evolution so weit betrieben wird, dass diese Materieklumpen, diese Haufen von Elektrons und Quarks, als die wir hier sitzen und Kaffee trinken, all diese Fragen stellen. Dass die Materie quasi über sich selbst nachdenkt. Wir sind ja Teile des Universums. Aber sehr, sehr vieles verstehen wir noch nicht. Wir verstehen im Moment noch nicht mal, was Bewusstsein eigentlich ist. Das versteht kein Mensch, ja, und ob das was zu tun hat mit . . . der Quantenphysik – es gibt alle möglichen Spekulationen. Aber man sollte meiner Ansicht nach auch einräumen, dass die Wissenschaft vielleicht nicht alles wird beantworten können, wir müssen verstehen, dass es auch Mysterien gibt – jedenfalls können wir sie nicht erklären momentan.“

Herr Dr. Landua verschränkt die Hände hinter dem Kopf: „Aber wir arbeiten daran“, er lacht, „ich meine, es ist schon ein großer Erfolg, dass man das ganze Universum, vom Zeitpunkt 10[-10]Sekunden ab bis heute mit allen Komplexitäten ohne großen Aufwand beschreiben kann. Aber, jetzt kommt ein neuer Satz von Fragen, wir haben erkannt, alle Phänomene sind mit dem Raum-Zeit-Gefüge sozusagen verheiratet. Jeder Punkt des Universums kennt diese Gesetze, man schaut auf die andere Seite des Universums, da funktionieren die gleichen Naturgesetze wie hier, woher weiß das die Seite dort drüben?! Und da kommen wir in komplizierte Bereiche, die zusammenhängen mit der Quantifizierung von Raum und Zeit und Gravitation. Das ist für die Theoretiker der Heilige Gral, da wollen alle hin, hier verbirgt sich vermutlich die berühmte Weltformel. Das ist genau der Bereich, in dem im Moment die Theorie ansetzt. Und wir Experimentalphysiker sind im Moment eigentlich schon am Verzweifeln, denn alles, was das Standardmodell (das mit den drei Familien von jeweils vier Teilchen und die Wechselwirkung dazwischen) vorausgesagt hat, ist genau so eingetreten. Aber wir wissen nichts über den Ursprung dieses Modells. Wir suchen danach, wir suchen eigentlich das Haar in der Suppe. Wir glauben, es gibt einen sehr guten Grund zu der Annahme, dass wenn wir die Materie noch ein bisschen aufheizen können, dass wir dann plötzlich Dinge sehen, die wir bisher nicht gesehen haben, dass die Materie eine neue Hierarchie, ein neues Niveau zeigt und wir vielleicht verstehen werden, weshalb dieses Standardmodell entstanden ist. Und deshalb bauen wir jetzt die neue Beschleunigungsanlage, den großen Hadron-Collider – er wird der größte Beschleuniger der Welt sein, der mit der höchsten Energie.“

Auf die Frage, wie eigentlich die Teilchen produziert werden, die man dann in den Beschleuniger gibt, erklärt Herr Landua: „Sie meinen das Proton? Das ist ganz einfach im Prinzip, der Kern des Wasserstoffatoms besteht aus einem Proton und einem Elektron, das drum herum schwirrt. Sie müssen nichts anderes tun, als das Elektron zu entfernen. Das können Sie schon mit einer normalen Kerze machen, wenn Sie die Materie aufheizen, dann sagt man, wird ionisiert. Die Elektronen werden entfernt und dann bleiben die positiv geladenen Protonen übrig. Jetzt brauchen Sie nur noch eine negative Spannung irgendwo anzulegen, und dann zieht es das Proton dort magisch an, es macht so eine Art Strahl. Und was Sie jetzt nur noch tun müssen, ist, diesen Strahl immer weiter zu beschleunigen. Also immer, wie die Karotte vor die Nase des Kaninchens, ein negatives elektrisches Feld vor die Nase, sag ich mal, des Protons, dann wird es immer schneller, läuft durch eine Sequenz, eine ganze Kaskade von Beschleunigern, mit immer höherer Energie, denn das ist ja das Ziel, am Ende hat es dann so viel Energie, dass, wenn es mit einem entgegenkommenden Proton zusammenstößt, sich diese Energie verwandelt und zwar in neue Teilchen. Das ist, grob gesprochen, so der Vorgang. Und damit komme ich jetzt auch gleich, um ein anderes Kapitel aufzuschlagen, auf mein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt. Mit einem Kollegen zusammen habe ich, wie ich schon sagte, vorgeschlagen, ein neues Besucherzentrum aufzubauen, das mehr oder weniger diese ganze Geschichte virtuell aufarbeitet. Es ist doch sehr wichtig, dass die Leute sehen, dass die Physik mehr, als sie denken, mit ihnen selbst zu tun hat, mit ihrem Ursprung und mit ihrem Universum. Das ist den meisten Menschen ja gar nicht so vertraut, dieser Gedanke. Und für viele ist es eine interessante Information, dass jedes einzelne Atom in unserem Körper mindestens sechs Milliarden Jahre alt ist – wenn nicht sogar fünfzehn. All diese Teilchen, die da in uns herumschwirren, die kommen mehr oder weniger direkt vom Urknall und haben sich seitdem nicht mehr verändert, sind nur in verschiedene Strukturen eingebaut worden . . . Oder eine andere Information, die auch ein Gefühl dafür vermittelt, wie viele solcher Teilchen eigentlich pro Kubikzentimeter umherschwirren: Also jedesmal, wenn Sie einatmen, geschieht es . . . nehmen wir einen Schriftsteller, vielleicht Kafka: Vom letzten Atemzug, den er getan hat, bevor er starb, ist eines dieser Atome jetzt im Moment in Ihrer Lunge.“

Dr. Landua bildet ein Grübchen und blickt selbstvergessen aufs Magnolienbäumchen: „Big Bang Discovery-Center soll unser zukünftiges Besucherzentrum heißen, so eine Art Erlebniswelt, aber kein Disneyland! Die Besucher können die Geschichte des Universums und die Struktur der Materie quasi am eigenen Körper kennen lernen und erleben, individuell, indem man ihnen eine entsprechende Umwelt visualisiert. Es sollen dazu zwei Teile gebaut werden, ein Teil, der nach oben orientiert ist, der quasi den Makrokosmos beinhaltet, und ein Teil, der nach unten orientiert ist und den Mikrokosmos veranschaulicht. Der Makrokosmos würde mehr so ein Standardplanetarium sein, wo man langsam und anschaulich den Urknall erklärt. Und was besonders wichtig ist, das Ganze soll den Zusammenhang mit unserer Forschung hier mal genau und verständlich erklären. Und dann geht es nach unten, auf einer Art Spirale, und jedesmal wenn man ein Stockwerk tiefer geht, ist man um den Faktor 1.000 kleiner, quasi, natürlich mit dem Trick, dass man dasselbe Sensorium behält wie vorher. Man fängt also an mit der Milliwelt 10[-3], steigt dann hinab in die Mikrowelt 10[-6], von dort in die Nanowelt 10[-9], dann in die Picowelt 10[-17], die []ist relativ leer, darauf folgt die Femtowelt 10[-15], das ist die Welt des Atomkerns. Was also wesentlich ist, man kann hinabsteigen in seine eigenen Tiefen, in sich selbst in die Zelle, in die Moleküle, ins Atom und den Atomkern und jedesmal wächst sozusagen die Umgebung um den Faktor 1.000. Ein Stockwerk tiefer sieht man dann die Protonen und Neutronen, sieht, erlebt, woraus alles besteht. Und dann dachte ich, hat man noch so eine Art Loch, wo man in die Tiefe schaut, in die Planckwelt, das ist etwa 10[-33], also nochmal 18 Größenordnungen kleiner als die Femtowelt. Und hier liegt der Bereich, wo man glaubt, dass der Big Bang sich ereignet hat, wo das Geheimnis von Materie und Universum verborgen liegt. Und das ist ja das, was uns, den CERN hier, interessiert und was wir meiner Meinung nach auch vermitteln müssen. Da ist noch einige Überzeugungsarbeit nötig, unserem Direktorium gegenüber, leider. Gut, man kann sagen, dass die Wissenschaft normalerweise keinen solchen Aufwand betreibt, aber hier ist es etwas anderes. Wir, der CERN, hängen nämlich zu hundert Prozent am Tropf der Gesellschaft, jeder Bürger in Europa, auch der Säugling bezahlt 3,30 Mark pro Jahr für das Projekt CERN, dafür hätte er eigentlich das Recht, auch zu verstehen, weshalb und woran eigentlich wir hier forschen, wofür wir jedes Jahr eine Milliarde Mark ausgeben. Und dafür wird hier entschieden zu wenig getan, wir haben zwar jährlich so 20.000 Besucher, aber ob die viel klüger wieder weggehen, ist kaum zu hoffen. Dieser Zustand muss sich ändern und das würde so 60 bis 70 Millionen Schweizer Franken kosten, mit einem solchen Besucherzentrum. Das muss uns die Sache einfach wert sein. Na, es wird schon werden.“

Wir beschließen, Sandwiches zu kaufen und über Mittag zu Dr. Landua nach Hause zu fahren. In seiner sechssitzigen Familienkutsche überqueren wir das große Gelände des CERN, alles wirkt ein wenig abgeschabt und wie ein Studentendorf aus den frühen Sechzigerjahren. Dann geht’s über einen autobahnartigen Zubringer etwa ein viertel Stündlein lang durch den strömenden Regen. Auf unsere Frage, ob sich die Technik und die Forschungsergebnisse militärisch verwerten lassen, sagt Herr Landua: „Auf beides würde ich mit einem Nein antworten. Obwohl in den Hinterköpfen der Politiker immer so etwas gesteckt hat. Am Anfang . . . das kommt, wenn man genau schaut, fast direkt aus dem Manhattan-Projekt raus. Früher, die ganz alten Teilchenphysiker, die waren alle im Manhattan-Projekt drin. Unser Institut heißt ja immer noch ,Kernforschungsinstitut‘, obwohl wir damit überhaupt nichts mehr zu tun haben – früher dachte man noch, wir würden mal eine neue Art von Energie erzeugen, Fusion oder so . . . Nein, wir bearbeiten nur diese fundamentalen Fragen. Bei uns gibt’s nichts, was geheim ist!“

Das Haus liegt in einer neuen Villensiedlung, umgeben von Weiden und Reiterhöfen, ein weißes Schmuckkästchen neben anderen weißen Schmuckkästchen. Buchsbaumhecke, Tiefgarage, Garten, Swimmingpool. Innen weißer Teppichboden, den eine etwas erschrocken wirkende Asiatin gerade reinigt. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz auf einer weißen „Sitzlandschaft“. Die Einrichtung ist sparsam. Neben der TV-Anlage fällt noch ein schöner Holzschrank auf. In einem Vitrinenschrank sind Spiele der Kinder, von denen ansonsten keine Spur zu sehen ist. Alles ist makellos sauber und aufgeräumt. Vor einiger Zeit noch, sagt Herr Landua, hat er das alles selbst gemacht, jetzt hat er eine Hilfe. Im Esszimmer, das sich anschließt, hängt ein Bild an der Wand mit zwei Engeln in der Manier von Poesiealbumbildchen. Später, im blitzblanken gekachelten Gästeklo unterhalte ich mich mit einem weißen Hamster. Er sitzt in seinem Käfig und reagiert aufs Angesprochenwerden heftig, erklimmt die Decke seines Käfigs, umklammert die Stäbe, hängt kopfunter mit rosa Pfoten und betrachtet mich. Als ich den Finger durch die Stäbe stecke, leckt er ihn heftig und gebärdet sich so, als wolle er mich auffordern, noch ein wenig zu bleiben. Herr Landua erklärt, die Tochter habe den Hamster ausquartiert aus ihrem Zimmer, weil er nachtaktiv sei und rumore. Und die asiatische Hilfe möchte ihn in den Wohnräumen nicht dulden. Er zuckt mit den Schultern und sagt: „Erst wünschen sich die Kinder Tiere, und wenn sie da sind, dann muss ich sie versorgen.“ Dann erzählt er vom enormen Privileg, das er genießt, einer von nur dreißig fest angestellten Experimentalphysikern des CERN zu sein, von den vielen Filtern, die er passieren musste auf dem Weg hierher. Er wirkt sehr uneitel und spielt seine Rolle als Mitglied einer Elite lächelnd herunter. „Ich bin so eine Art Katalysator, nehme die herumschwirrenden Ideen auf und trage sie weiter, ich rede mit vielen und ich erlaube sozusagen der Wissenschaft, die Potenzialschwellen zu überwinden“, er lacht, „so, und jetzt fahren wir zurück, und ich zeige Ihnen noch das Labor, wenn Sie möchten.“

Vor dem Eingang des Labors steht ein weißer Lastwagen, er liefert anscheinend Flüssigstickstoff, kleine Nebelwolken steigen aus den Schläuchen auf. An der Tür zum Labor warnt ein Schild vor Radioaktivität. Wir treten in eine Halle groß wie ein Fußballfeld. Den Boden bilden wuchtige Betonquader mit versenkten Haken, darunter liegt abgeschirmt der Beschleuniger. In der Mitte des Ringes steigt man auf steilen Eisenleitern hinab, vorbei an Bürocontainern. Im Zentrum liegt ein fabrikartig aussehender Arbeitsraum, nach oben offen. Drumherum ziehen sich ringförmig Aluminiumrohre und ein Gewirr aus bunten Kabeln, großen Magneten und anderen Teilen. Ein andauerndes tiefes Brummen erfüllt die Halle, ein Geruch nach Betonstaub und brenzliger Elektrizität liegt in der Luft.

„Wir stehen hier in der einzigen Antimateriefabrik der Welt“, sagt Dr. Landua stolz und führt uns herum. „Ich will mal grob erklären, was wir hier machen: Man vermutet, dass beim Urknall eine gleiche Menge von Materie und Antimaterie entstand. Warum sich nicht sofort alle Teilchen und Antiteilchen gegenseitig ausgelöscht haben und zu Strahlung wurden, ist unbekannt. Es ist ein Rätsel, weshalb es im Universum nur noch Materie gibt. Wir fragen uns, wo die Antimaterie geblieben ist, was es mit der Dominanz der Materie auf sich hat. Wir wissen, dass es während dieser 10-[10]Sekunden eine kleine Asymmetrie gab. Und die aktuelle Forschung konzentriert sich nun darauf herauszufinden, ob’s irgendeinen Unterschied gibt zwischen Materie und Antimaterie. Die sollten der Theorie nach vollkommen symmetrisch sein, aber es muss einen Unterschied geben. Wir bauen jetzt am CERN Antiwasserstoffatome. Unser Ziel ist, den Fingerabdruck zu untersuchen – der Fingerabdruck ist das Lichtspektrum – um zu sehen, ob der Fingerabdruck identisch ist mit dem vom Wasserstoffatom. Also die Schultheorie des Standardmodells sagt, es ist identisch, und zwar auf beliebige Genauigkeit. Wir sagen zunächst mal nichts. Wir sind Experimentalphysiker, wir messen. Ich persönlich allerdings neige, ehrlich gesagt zu der Vermutung . . . vielleicht ist es unterschiedlich. Das wäre schön, sehr schön! – Da hinten nun, hundert Meter von uns, da saust also – wups! der Materiestrahl auf einen Metallklotz, und in dieser Kolision kommt dann ein Schauer von Teilchen heraus, neue Teilchen, und eins von einer Million ist ein Antiproton. Die Antiprotonen werden dann dort in diese Röhre geschleust, den Antiproton-Decelerator, der, wie der Name sagt, die Teilchen herunterbremsen soll. Von 96 Prozent auf 10 Prozent Lichtgeschwindigkeit, denn wir wollen die Antiprotonen ja einfangen, in so einer Art Falle. Von der anderen Seite geben wir dann die Positronen dazu und die Paarung, sag ich mal, der beiden Teilchenwolken, die findet da drin statt – Sie sehen die Spulen, die Widerstände – mit dem Ergebnis, dass Antiwasserstoffatome gebildet werden. Aber in einer tausendstel Sekunde nach der Produktion sind sie schon wieder ,tot‘, dennoch, das reicht uns, sie was zu fragen; zumindest in den nächsten Jahren. An diesen Eperimenten arbeiten natürlich mehrere Leute zusammen, zum Beispiel auch ein Techniker, den wir von unserem privaten Geld bezahlen, denn alle guten Techniker sind ja mit dem LHC beschäftigt. Formell gesehen ist unserer nur ein kleiner Techniker, er hat aber im Laufe der Zeit so viel Verständnis für Physik und Technologie entwickelt, dass er fast wichtiger ist als irgendein Physiker.“ Herr Landua deutet auf einen Metallspind: „Und die Sektflaschen dort stehen da noch . . . das war, als wir zum ersten Mal die Antiprotonen eingefangen haben – na, vielleicht gibt es ja irgendwann wieder mal einen Grund zum Feiern . . .“